Verwechseljahre: Roman (German Edition)
und sind deine Familie! Seit Jahren sind wir unzertrennlich! Tag und Nacht füreinander da! Hast du das schon vergessen?«
»Nein, Rainer.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das bildest du dir nur ein …« O Gott. Ich hatte seine Hilfe wirklich immer angenommen. Natürlich war es irgendwann selbstverständlich geworden, dass er zur Stelle war, dass er einen Schlüssel hatte, dass er die Post öffnete und über alles Bescheid wusste! Wie sollte ich dem jetzt nur einen Riegel vorschieben, wo gar keine Tür mehr da war!
»Rainer, bitte, das ist meine Sache! Lass mich in Ruhe über alles nachdenken!« Ich rang mir ein eingefrorenes Lächeln ab.
»Was gibt es denn da noch nachzudenken?« Rainer stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Dein kaputter Spielersohn will nur dein Geld, und der einsame Witwer steht vor den Scherben seines Lebens! Er hat alles falsch gemacht, und jetzt braucht er Trost! So wird ein Schuh draus!« Rainer nahm mir Viktors Brief aus der Hand und warf ihn verächtlich auf den Tisch, als wollte er eine missratene Schülerarbeit kritisieren.
»Wie kannst du nur so reden!« Ich rieb mir die Schläfen. Schon auf dem Heimflug hatte ich Kopfschmerzen gehabt, aber jetzt wurde das Hämmern unerträglich. Ich spürte eine schmerzhafte Anspannung in den Schultern und ließ sie mutlos sinken. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Es hatte doch alles keinen Zweck.
Rainer bemerkte das und legte den Arm um mich.
»Ich will dich nur beschützen, Carin. So wie ich dich immer beschütze. Und jetzt muss ich dich vor dir selbst beschützen.« Er nahm den Kontoauszug und schlug mit dem Handrücken darauf: »Über 5 875 Euro!« Er schüttelte schnaubend den Kopf. »Für eine Woche Urlaub! Dabei habt ihr euch noch nicht mal ansatzweise angenähert! Ihr hättet zu einem Mediator gehen sollen! Zu einem geschulten Psychologen! Ich hätte euch da gerne geholfen!«
Hatte der Mountainbikefahrer Markus nicht etwas ganz Ähnliches gesagt? Familienaufstellung. Aber das war doch alles nur laienhaftes Halbwissen! Warum ließ ich nur zu, dass sich Leute in mein Leben einmischten, die nichts, aber auch gar nichts davon verstanden?
»Ich bin erwachsen, Rainer«, entgegnete ich würdevoll, wenn auch mit schamroten Wangen. An dieser Stelle geriet ich ins Stocken. Ich kam mir wirklich vor wie eine trotzige Göre in der Pubertät.
»Du benimmst dich aber nicht so. Du wirfst dein hart verdientes Geld zum Fenster raus, stiehlst dich mit diesem Roman bei Nacht und Nebel heimlich davon, kümmerst dich an Allerseelen nicht um das Grab deiner Mutter, lässt deine Post aus dem Briefkasten quellen und beantwortest die Beileidbriefe nicht … Das ist doch – postpubertär! Chaotisch!« Er hörte gar nicht auf, tadelnd den Kopf zu schütteln und fassungslos zu lachen. »Aber das Schlimmste ist, dass du diesem halbseidenen Betrüger deine Kreditkarte gibst!«
»Rainer, ich habe dir doch gerade erklärt …« Das war doch unglaublich! Ich durfte nicht zulassen, dass er mich abkanzelte wie eine Schülerin! Ich verspürte tatsächlich den Drang, ihn zu schlagen, und konnte mich mit letzter Kraft beherrschen.
»Raus hier!«, sagte ich mit zitternder Stimme und zeigte mit einer dramatischen Geste auf die Wohnungstür.
Aber Rainer war noch gar nicht fertig. »Ja, toll. Raus hier! Und wann kommst du dann das nächste Mal in Tränen aufgelöst angekrochen?? Wenn hier wieder Müll vor der Tür liegt? Oder dein Auto kaputt ist? Oder der Krankenwagen mit Blaulicht vor dem Haus steht?«
»Du stehst halt immer gerade da, wenn ich heule!«, giftete ich ihn an. »Ich kann nichts dafür, dass wir Nachbarn sind!«
»Nachbarn!«, höhnte er. »Grüß Gott, Frau Nachbarin! Wie war noch mal Ihr Name?«
»Ach, hätte ich doch Roman diese Wohnung geschenkt!«, hörte ich mich rufen.
Er lachte. »Schnuckelmaus. Sei nicht albern.«
»Wenn du mich noch einmal Schnuckelmaus nennst, vergesse ich mich!«
»Aber ich darf die Scherben zusammenkehren, wenn jemand meiner kleinen Carin wehgetan hat, ja?«
»Rainer.« Ich ballte die Fäuste. »Ich BIN NICHT DEINE KLEINE CARIN .«
Rainer schüttelte den Kopf, als hätte ich ihm mein Schulheft gezeigt, in dem es von Fehlern nur so wimmelte. »So kommen wir doch nicht weiter! Reagier dich erst mal ab, schlaf dich erst mal aus … Vielleicht solltest du ins Fitnessstudio gehen.«
»Ja. Später.«
»Also, ICH gehe jetzt ins Fitnessstudio.« Er rieb sich die Hände. »Dort freut man sich wenigstens, mich zu
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