Verwechseljahre: Roman (German Edition)
muss man einfach loslassen können, das meint er wohl. Du kennst ihn doch, er ist immer ganz vorn dabei mit seinen Ratschlägen …«
Sonja hatte den Blick abgewandt und die Schultern hochgezogen, so als wollte sie meine Worte ausblenden. Schwer zu sagen, was in ihr vorging.
»Weißt du, das würde ich dir wirklich gerne glauben«, sagte sie schließlich heiser. »Er war derjenige, der mich aus einer tiefen Krise rausgeholt hat, nach allem, was mit Holger und Nicola war …«
»Und mit Vivian, Roman und der DVD «, ergänzte ich verständnisvoll. »Ich weiß, dass du verdammt harte Zeiten hinter dir hast. Deswegen schwöre ich dir, dass er mir noch nie solche Briefe geschrieben hat. Und dieser hier ist ja auch nicht im herkömmlichen Sinne …« Ich wedelte ratlos mit dem Zettel. Am liebsten hätte ich ihn in den Mund gesteckt und runtergeschluckt!
»Aber eben hast du gesagt, dass er dir seit Jahren Liebesbriefe schreibt.« Sonja verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein, also, das hast du falsch verstanden.« Ich ballte innerlich die Fäuste. Jetzt galt es zu lügen, bis sich die Balken bogen. Gute Freundin hin oder her: In diesem Fall war die Lüge der größere Freundschaftsdienst.
»Es ist der einzige, den er je geschrieben hat. Und wie du siehst, ist es eher ein guter Rat und auf keinen Fall ein Liebesbrief oder so was.«
Beiläufig lehnte ich mich an die Küchenschublade. An die, die mindestens zwei Dutzend seiner Werke enthielt. Sie war so voll, dass die grün beschrifteten Zettel hervorquollen. Geistesgegenwärtig stopfte ich sie tiefer hinein und drückte die Schublade fest mit dem Po zu. »Glaub mir, Sonja, ich freue mich sehr, dass es so gut funktioniert mit euch, dass du ihn typmäßig positiv verändert hast und dass ihr so gut zusammenpasst. Und natürlich waren die Rosen damals für dich – und die Briefe auch …«
»Was versteckst du da?«
»Ich? Ähm nichts!« Ich zog die Hände vor wie ein ertapptes Schulkind.
Die Stille wurde immer unerträglicher.
»Seit wann?«, fragte Sonja. Ihre Augen waren nur noch zwei schmale Schlitze.
»Seit wann was?« Mein Herz raste.
»Spielst du mir seine Briefe zu?«
»Bitte – was?« Meine Beine versagten ihren Dienst.
»Du hast grüne Tinte an den Fingern.«
Ich starrte entsetzt darauf. Tatsächlich. Meine Finger waren noch nass vom Prosecco, und nun lösten sich nicht nur Rainers Liebesschwüre, sondern auch mein ganzes Lügengebäude in Luft auf. Ich holte tief Luft und schloss die Augen. »Okay.« Seuf zend setzte ich mich rittlings auf einen Stuhl und sah ihr fest in die Augen. »Es tut mir wahnsinnig leid, Sonja. Ich schäme mich in Grund und Boden.« Meine Hand glitt in die Schublade und zog wie in Zeitlupe unzählige grüne Zettel heraus. Anschlie ßend legte ich endlich die fällige Beichte ab. Ich hörte mich reden, konnte mich später allerdings an kein einziges Wort mehr erinnern. Ich wusste nur, dass ich ihr endlich die erlösende Wahrheit gesagt hatte. Sonja wurde erst kalkweiß im Gesicht, dann krebsrot und schließlich wieder leichenblass. Die Flasche Prosecco blieb unangerührt auf dem Küchentisch stehen. Bis Sonja sie mir vor die Füße pfefferte, wo sie in tausend Scherben zersprang.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« Hasserfüllt sah sie mich an. »Du bist eine elende Lügnerin, genau wie dein Sohn! Weißt du, eine kleine Notlüge ist okay. Aber eine FREUNDIN über Monate hinweg ganz bewusst anzulügen, zu betrügen und zu VERARSCHEN , das ist unverzeihlich.« Sie sah mich dermaßen eiskalt an, dass meine Seele gefror. »Ich will mit dir und deiner verlogenen Mischpoke NICHTS mehr zu tun haben!«
»Aber Sonja, ich flehe dich an …«
»Steck dir dein Geld für Vivians Kind sonst wohin!«
Dann knallte die Wohnungstür. Wenige Sekunden später schoss der Porsche rückwärts aus unserer Einfahrt. Mein Herz raste. Mein Gaumen pulsierte. Minutenlang stand ich wie zur Salzsäule erstarrt in der Küche und glotzte auf die Scherben. Auf die Scherben unserer Freundschaft. Die Scherben meines Lebens.
Als Rainer kurz darauf verschlafen und zerzaust an meine Wohnungstür klopfte und fragte: »Ja, kann man euch Weiber denn keine Sekunde alleine lassen?«, fiel ich ihm – wie konnte es auch anders sein – weinend in die Arme.
32
S ieben Stunden lang ratterte der Zug durch die trübe Landschaft. Ich hatte den Kopf an die kühle Scheibe gelehnt und starrte hinaus in die dämmrige Eintönigkeit. Auf den höher gelegenen
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