Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Familienautos verspielt, verdaddelt, verhökert? Um Spaß zu haben? In mir zog sich alles zusammen. Mein Mund wurde trocken. Und diese entzückende Silke musste mit drei kleinen Kindern zu Fuß gehen? Alle Einkäufe, die Wege zu Kindergarten, Kinderschwimmen, Arzt, zur musikalischen Früherziehung und was weiß ich noch zu Fuß bewältigen? Was für ein schäbiger Charakter! Mein eigen Fleisch und Blut. Das war doch völlig unverzeihlich. Ich wollte nie, nie wieder etwas mit ihm zu tun haben!
»In Kleinklinkersdorf fährt ein Bus«, sagte Silke ungerührt. »Und wenn wir nach Hamburg wollen, nehmen wir die S-Bahn. Außerdem tut Bewegung an der frischen Luft gut, die Kinder sind gegen Erkältungen abgehärtet.«
Sie schien immer alles von der positiven Seite zu sehen. Wenn mir hier eines im Taxi klar wurde, dann das: Roman hatte seinen allergrößten Hauptgewinn verspielt. Silke und die Kinder.
Ich nahm mir ein kleines Pensionszimmer an einer Straßenkreuzung. Luxuriös war es nicht, aber mir war es wichtig, in der Nähe »meiner« neuen Familie zu sein.
Gleich am Ankunftstag war ich zum Abendbrot eingeladen. Nachdem ich mich in meinem winzigen Zimmer mit Blick auf die Ausfallstraße ein bisschen frisch gemacht hatte, nahm ich die Geschenke für die Kinder und stiefelte los. In diesem Moment machte mein Herz einen richtigen Freudenhopser: So fühlt man sich also als Oma.
Die Schaukel, der Bollerwagen und die Kinderräder lagen unter einer dünnen Schneedecke. Ich hatte das Klinkerhäuschen gar nicht so klein in Erinnerung! Jetzt, im fahlen Schein der Straßenlaterne, wirkte es noch winziger. Wie schon bei unserem ersten Besuch im September, sah ich Silke in der Küche am Herd werkeln. Ich drückte in freudiger Erwartung den Klingelknopf. Fußgetrappel, hohe aufgeregte Stimmchen. Mein Herz zog sich sehnsüchtig zusammen. Silke rief etwas auf Französisch.
Zu meiner Überraschung öffnete mir diesmal keines der Kinder, sondern eine attraktive Frau in meinem Alter. Sie hatte dunkle kinnlange Haare, die im Flurlicht glänzten, ein ebenso waches, offenes Gesicht wie Silke und lächelte mich mit strahlend weißen Zähnen an: »Sie müssen Carin sein! Ich bin Silkes Mutter, Beate!« Sie umarmte mich, bevor ich überhaupt über die Schwelle getreten war. »Ich hab schon so viel von Ihnen gehört! Wie schön, Sie endlich kennenzulernen!«
»Ja, ähm, hallo!«
Also, wenn ich gewusst hätte, dass hier auch noch eine andere Oma war, hätte ich mich nicht so gebraucht und ersehnt gefühlt. Und trotzdem hatten sie mir das Gefühl gegeben, ich hätte ihnen gefehlt. Halb beschlich mich eine leise Enttäuschung, halb fühlte ich mich sofort zu dieser herzlichen Frau hingezogen. War ich nur ein geduldeter Gast? Oder hatte ich plötzlich eine Familie? Obwohl der Draht zu Roman gar nicht vorhanden war? Hatte ich das überhaupt verdient? Ich meine, so etwas Wunderbares muss man sich doch erarbeiten! Ich schluckte trocken. Würde ich morgen einsam in meiner Wohnung aufwachen und alles nur geträumt haben?
Silke kam mit Ben auf dem Arm aus der Küche, und die beiden Frauen schmiegten sich aneinander. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
»Das ist meine Mama«, sagte Silke stolz und strahlte ihre Mutter von der Seite an.
Mich beschlich ein feiner Neid. Warum waren alle mit ihren Kindern so glücklich? Warum hielten alle so felsenfest zusammen? Warum war ausgerechnet mein Sohn so ein missratener Egoist, der mir nur Eiseskälte entgegenbrachte?
»Und das ist meine neue Schwiegermama!«, sagte Silke zu ihrer Mutter, und der Stolz blieb in ihrer Stimme.
Die Kinder packten freudestrahlend ihre Geschenke aus. Ich hielt Ben, der an meinem Rollkragen zerrte und mir auf die Schulter sabberte, während Mutter und Tochter den Tisch deckten und das Essen aus der Küche brachten.
»Carin, setz dich!« Silke lächelte mich liebevoll an und zeigte auf die Eckbank. »Komm, gib mir den kleinen Stinker, der soll dir nicht ins Essen patschen.«
Ich träumte nicht. Das war mir spätestens klar, als ich einen Klecks Spinat auf der Bluse hatte. Alle lachten.
Es gab etwas ganz Einfaches: Frikadellen, Spinat und Kartoffeln. Und es schmeckte wunderbar. Kein Hummerschwanz und kein Babyshrimpscocktail vom überladenen Buffet an der Algarve hatten mir annähernd so gut geschmeckt wie dieses einfache, liebevoll zubereitete Gericht. Wie fern war doch die Algarve! Dort herrschten Hektik, Lärm und Geltungssucht und hier im kleinen Esszimmer unter dem warmen
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