Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Feldern lag wässriger Schnee. Braunes Gras ertrank unter braunen toten Blättern. Die Häuser an den Bahngleisen wirkten schmutzig und grau. Kahle Bäume zitterten vor einem stürmischen Wolkenhimmel, die Wege starrten vor Schlamm. Ansonsten nichts als trostlose Einkaufszentren und graue Beton parkhäuser. Die Fahrgäste, die ausstiegen, schlugen den Kragen hoch, bevor Sprühregen sie einhüllte und meinen Blicken entzog. Zum Glück war ich allein in meiner Großraumsitzecke und hatte Zeit zum Nachdenken. Gut, dass ich mit niemandem reden musste. Nicht einmal die rücksichtslosesten Wichtigtuer unter den Mitreisenden, die lautstark und lange telefonierten, konnten mich verärgern, so lethargisch und kraftlos war ich. Normalerweise fand ich das dermaßen unverschämt, dass ich sie mit bösen Blicken erdolchte. Wenn sie dann immer noch nicht damit aufhörten, den ganzen Waggon an ihren endlosen Geschäfts- oder Privatgesprächen teilhaben zu lassen, ging ich meist hin und sagte: »Entschuldigung, dass ich im Abteil sitze, während Sie telefonieren!« Manchmal war ich so geladen, dass ich drauf und dran war, den eitlen Schwätzern mit ihrem eigenen Handy das Maul zu stopfen.
Aber jetzt war ich nur noch ein Häuflein Elend. Das beklemmende Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, führte dazu, dass ich mich förmlich in meinen Sitz verkroch, um mich unsichtbar zu machen. Von mir aus hätte eine ganze Fußballmannschaft im Abteil trainieren können – ich hätte nicht gewagt, etwas zu sagen. Mein Selbstbewusstsein war auf die Größe einer Erbse zusammengeschrumpft. Außer Billi, die ich derzeit unmöglich mit meinen Problemen belasten konnte, hatte ich jetzt wirklich niemanden mehr.
Niemanden? Doch! Ich hatte noch Silke und die Kinder. Daran klammerte ich mich wie an einen Strohhalm. Ich hatte sie von zu Hause aus angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. Dabei hatte ich so getan, als wäre ich zufällig für Weihnachtseinkäufe in Hamburg und könnte es vielleicht einrichten, bei ihr vorbeizuschauen. Und genauso zufällig hatte ich meine Ankunftszeit auf Band hinterlassen. Aber wer war ich schon für sie? Eine fremde Frau.
Doch dann atmete ich erleichtert auf: Am Hamburger Hauptbahnhof stand tatsächlich Silke, an jeder Hand ein Kind plus Kinderwagen, Rollbrettchen und allem, was dazugehört. Sie winkten und sprangen mir freudig entgegen, so als wäre ich ihre heiß geliebte, lang vermisste Oma! Eine nie gekannte Wärme breitete sich in mir aus, als ich dieser heiteren, hübschen jungen Frau in die Arme fiel. Sie war so schlank und zerbrechlich! Wie gern würde ich sie entlasten! Der kleine Max überreichte mir ein entzückendes Blümchen, Laura ein selbst gemaltes Schild, auf dem »Herzlich willkommen, liebe Oma« stand. Mir kamen die Tränen vor Rührung. Das hatte ich nun wirklich nicht verdient! Ich bückte mich, umarmte die Kinder, die ihre kalten runden Wangen an die meine pressten, und warf einen Blick in den Kinderwagen. Hinter Federbett und hellblauer Wolldecke lag der wenige Monate alte Ben auf seinem Lammfell und guckte mich freundlich aus seinen graublauen Knopfaugen an. Als ich mich zu ihm hinunterbeugte, verzog er sein Gesichtchen zu einem bezaubernden zahnlosen Grinsen. Ich hätte ihn vor Wonne fressen können!
Plaudernd zogen wir mit Sack und Pack davon. Für Außenstehende musste es so aussehen, als wären wir seit Jahren eine eingespielte, glückliche Familie! Auf dem Bahnhofsvorplatz reihten sich die Taxen aneinander.
»Wir nehmen öffentliche Verkehrsmittel, n ’ est-ce pas, c h ´ eris? «
»Aber nein!«, protestierte ich. »Ich spendiere ein Taxi!«(Auch wenn es meine letzten Kröten waren.) Es war gar nicht einfach, einen Kombi zu finden, der uns alle aufnahm.
»Ist das nicht ein Luxus, Kinder?«, fragte Silke lachend ihre süßen Kleinen. »Das bleibt aber die Ausnahme, nicht dass ihr euch daran gewöhnt!«
Die Kinder saßen ehrfürchtig im Auto und schauten andächtig aus dem Fenster. Sie waren so süß, so bescheiden, so normal! Während Roman die Luxusreise angenommen hatte, ohne dafür auch nur ein bisschen dankbar zu sein! Im Gegenteil.
Beim Losfahren sah ich Daddelhallen. Spielhöllen, vor denen sich dunkle Gestalten herumdrückten. Das war also Romans zweites Zuhause! Unauffällig hielt ich nach ihm Ausschau.
»Du schaust auch nach ihm, nicht wahr?« Silke tippte mir von hinten auf die Schulter.
Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Du weißt also, dass ich weiß
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