Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Charakter«, sagte ich düster und nickte. Ich erzählte Silke und Beate von der Kälte und Gleichgültigkeit, mit der mir Roman im Algarve-Urlaub begegnet war. »Er hat so getan, als gäbe es nichts anderes zu besprechen als Golf, Kleidung und Markenartikel.« Ich räusperte mich. »Und er hat sich meiner Kreditkarte bedient. Ohne ein Wort zu sagen.«
»Das sind typische Symptome«, erklärte mir Silke. »Er verschanzt sich hinter Oberflächlichkeiten, um ja nicht über seine Probleme reden zu müssen.« Silke klang ganz ruhig, trotzdem spürte ich, wie es in ihr brodelte. Mir war es nur eine Woche so ergangen, dennoch war ich fix und fertig. Ich fühlte mich ausgenutzt, gedemütigt. Aber Silke hatte das viel länger ertragen. Und das mit kleinen Kindern. Wie sehr ich diese tapfere junge Frau bewunderte! Doch mittlerweile hatte sie sich gefühlsmäßig komplett von ihm distanziert. Anders war das für sie wohl auch nicht zu bewerkstelligen.
»Ja. Er hat die ganze Zeit den lässigen Gentleman gespielt«, sinnierte ich laut.
»Na ja, außer dir gegenüber!« Beate strich mir liebevoll über den Arm. »Es war falsch, ihm einen Luxusurlaub zu schenken.«
»Im Nachhinein ist mir das auch klar«, seufzte ich. »Das war das Bescheuertste, das ich machen konnte.«
Plötzlich fiel mir ein, dass seine Adoptivmutter ihn auch immer nach Strich und Faden verwöhnt hatte. Und dass sie seine Probleme damit nur unter den Teppich gekehrt hatte. Statt ihm als Fünfzehnjährigem eine hinter die Löffel zu geben (wie Mut ter sich ausgedrückt hätte), hatte sie ihn vor Viktor in Schutz genommen. Ihn gedeckt. Seine Schlappen ausgebügelt. Seine Schulden bezahlt. Ihn mehrfach die Schule wechseln lassen. Ihm ein Moped gekauft. Ihm ein Appartement eingerichtet. Ihm Geld zugesteckt. Wie sollte er da lernen, dass Fehlverhalten Konsequenzen nach sich zieht? Ein bisschen den Charme spielen lassen, ein bisschen den Clown geben, Geschichten erfinden und sich selbst als Opfer darstellen – und schon lief der Karren wieder. In die von ihm gewünschte Richtung. Plötzlich machte sich ein ganz eigenartiges Gefühl in mir breit: Nicht das, versagt zu haben, es nicht geschafft zu haben, Oliver großzuziehen. Sondern Zorn. Die Frau hatte mir den Jungen komplett verzogen! Er hätte kein Spieler werden müssen, wenn sie ihm von Anfang an klare Grenzen gesetzt hätte! Wenn er gelernt hätte, was Verantwortung ist! Meine Schultern strafften sich unmerklich. Ich sah Silke und Beate in die Augen: »Und, ist ihm denn gar nicht zu helfen?«
»Nicht, solange er es nicht selbst einsieht. Noch belügt er sich und die anderen. Wir haben ihn schon durchschaut. Nur er sich selbst noch nicht.«
»Und was ist mit einer Therapie?«
Ich dachte an eine geschlossene Anstalt, in der es weit und breit kein Geld gab, das man verspielen konnte. So wie man Messer und Gabel vor potenziellen Selbstmördern versteckt, könnte man doch das Geld vor Spielern verstecken!
»Als ob wir das nicht alles schon versucht hätten!« Silke stieß ein kleines, bitteres Lachen aus und presste beide Fäuste an die Schläfen. »Wie glaubst du, fühlt man sich, wenn man mit dem eigenen Mann zu den Anonymen Spielern geht und ihn bewacht wie einen Schwerverbrecher?«
»Und wenn man ihm jeden Morgen die abgezählten Groschen für die S-Bahn und das Mittagessen in die Hand drückt?«, ergänzte Beate, die ihrer Tochter den Rücken stärkte. »Und alle Freunde und Bekannten heimlich bittet, ihm niemals Geld zu leihen?«
»Dabei habe ich so fest an ihn geglaubt!«
Silkes Worte berührten mich sehr. Ich hätte weinen können, als ich ihr erschöpftes Gesicht sah.
»Ich habe ihn angehimmelt, vergöttert, bewundert!«
Ja, das taten viele. Sein Auftreten war so einschüchternd! Man fühlte sich ihm automatisch unterlegen. Bis man ihn durchschaut hatte. Dann kam die große Ernüchterung. Die Ent-Täuschung. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich jemandem so verbunden gefühlt wie Silke. Ich legte meine Hand auf ihren Arm. »Ich bewundere DICH so sehr, Mädchen!«
»Silke hat das tapfer durchgezogen.« Beates Hand streifte die meine, und wir sahen uns an. »So lange, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand.«
Bestürzt starrte ich sie an.
Silke schlang schützend die Arme um sich.
Beate nickte sehr ernst.
»Er ist zu den Anonymen Spielern gegangen. Aber nur, um durch den Hintereingang in die Daddelhallen zu verschwinden. Auch wenn er nur fünf Euro in der Tasche hatte – er hat
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