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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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eine lange, schmerzhafte Geburt. Mutter, die Rekonvaleszentin war, besuchte mich und war hin- und hergerissen: »Und wenn wir es doch schaffen, ihn zu behalten?«
    »Sie sind gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen, Frau Bergmann«, mahnte Schwester Mathilde zur Vernunft. »Noch sind Sie nicht übern Berg.«
    Wir hatten keine Wohnung mehr, keinen Job. Mutter wog kaum noch fünfzig Kilo. Ich war siebzehn und hatte keinen Plan.
    »Wir finden gute Eltern für den Kleinen.« Schwester Mathilde blickte uns freundlich an. »Du solltest das Abitur nachholen, Carin. Du hast deine Zukunft noch vor dir!«
    »Aber wie kann man so etwas übers Herz bringen …«
    »Auch für mein Kind haben sich mit Gottes Hilfe gute Eltern gefunden.«
    »Kennen Sie die denn?« Ängstlich sah ich von meinem Wochenbett zu ihr auf.
    »Nein. Aber ich habe Gottvertrauen.«
    »Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie es Ihrem Kind geht?«
    »Gott weiß, wie es ihm geht. Und ich stehe in seinen Diensten.«
    Jedes Mal, wenn ich abschalten wollte, stürzten tausenderlei Gedanken auf mich ein. Was, wenn es böse Rabeneltern wären? Wenn sie mein kleines Baby schlagen würden? Allein bei der Vorstellung, man könnte ihm wehtun …
    Mutter und ich wechselten bange Blicke. Immer wieder schaute ich auf meinen kleinen schwarzhaarigen Sohn, den ich Oliver genannt hatte. Er nagte an seinem winzigen Fäustchen und gab so bezaubernde Laute von sich, dass es mir schier das Herz zerriss.
    »Ich gebe ihn nicht her.« Entschlossen setzte ich mich auf. »Ich schaffe das.«
    »Das Gefühl kenne ich«, sagte Schwester Mathilde tröstend. »Man glaubt, man kann Berge versetzen für sein Kind. Aber das kann nur Gott. Vertrau ihm! Er hat die richtigen Eltern für dein Kind schon auserwählt. Sie werden kommen.«
    Mutters Augen schwammen in Tränen, als sie mir beim Stillen zusah. Drei Wochen. Drei Wochen durfte ich Oliver behalten. Dann kam Schwester Mathilde lautlos wie immer in meine Kammer, und an ihrem Gesichtsausdruck sah ich sofort, dass Gott nun die richtigen Leute geschickt hatte. Sicher parkte ihr großer, geräumiger Wagen bereits am Vordereingang.
    Es ging alles ganz schnell. Die Papiere hatte ich in Anwesenheit eines Notars bereits vor Tagen unterschrieben. »In Pflege«. Das war für mich okay. Auf dem ganzen Dokument stand nir gendwo das Wort »Adoption«. Das Wort »unwiderruflich« hatte ich verdrängt. Ebenso den dazugehörigen Satz: »Hiermit erkläre ich mich einverstanden, dass das Kind den Namen der Eheleute annimmt und fortan trägt.«
    Für mich hieß er Oliver. Die würden ja nicht so blöd sein, ihm einen anderen Namen zu geben. Er sah doch aus wie Oliver: klein, rund, niedlich und entzückend. Sie würden ihn schon nicht Karl-Heinz, Rudolf oder Gottfried nennen. Und wenn doch: ihr Problem. Sobald ich ihn zurückgeholt hätte, würde er wieder mein bezaubernder, gut riechender, süßer Oliver sein. Die Hoffnung gab uns Kraft. Mutter und ich machten einander Mut. Nur nicht den Kopf hängenlassen. Wir schaffen das. Eines nach dem anderen.
    Als Erstes brauchten Mutter und ich ein Dach überm Kopf. Und ich einen neuen Job. Und sobald sich alles eingespielt hatte, würden wir unseren kleinen Liebling zurückholen.
    »Für Oliver ist es das Beste so.« Schwester Mathilde streckte die Arme nach ihm aus.
    »Sag Oliver auf Wiedersehen.«
    Ich küsste und streichelte das kleine schwarzhaarige Köpfchen. Olivers dunkelbraune Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. So als wollte er sagen: Das tust du jetzt aber nicht wirklich, Mama?!
    Dieser Ausdruck in den ernsten, fast schwarzen Augen hatte mich dreißig Jahre lang verfolgt. Immer wieder hatte ich von diesem Moment geträumt, und im Traum gab ich mein Kind nicht her. Im Traum nahm ich Oliver und rannte und rannte, um dann irgendwann schweißgebadet aufzuwachen.
    Bis heute Nachmittag, als ich beim Aufräumen den Zettel mit der grünen, von Rainer notierten Telefonnummer fand.
    Rainer schenkte mir verklärte Blicke. »Nun kenne ich also dein kleines großes Geheimnis.« Er drückte meine Hand, die schon ganz eingeschlafen war: »Danke, dass du es mir anvertraut hast.«
    Ja, das hatte ich. Was blieb mir auch anderes übrig, wenn sonst niemand zur Verfügung stand. Für so etwas hat man schließlich Nachbarn (und nicht zum Testen eines Klarspülers. Nur damit das ein für alle Mal klar ist!)
    Rainer hatte inzwischen sein fünftes Bier intus, und wir riefen ein Taxi. Auf der Heimfahrt streichelte er

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