Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Jedenfalls war es für mich ein Schock, sie tot im Swimmingpool zu finden, in den sie sich mit ihrem Rollstuhl gestürzt hatte. Dieses traumatische Erlebnis hat auch meine Ehe sehr belastet.
O Gott! Mich durchfuhr es kalt und heiß. Das alles hätte er mir noch erzählt, wenn ich nicht so schnell aufgelegt hätte! Der Arme!
Ich habe mich dann sofort für diese Arktisreise beworben, um erst mal Abstand zu gewinnen.
Das konnte ich jetzt besser verstehen. Doch seine arme Frau Silke tat mir leid. Welche Ängste die arme Schwangere durchstehen musste! Er schien ihr weniger Hilfe als zusätzliche Belastung zu sein. Sicher drehte sich zu Hause alles nur um ihn. Mehr und mehr beschlich mich der Eindruck, dass mein Sohn Oliver sich zu einem ziemlichen Egozentriker entwickelt hatte. Wie passend, dass er eine Sozialarbeiterin an seiner Seite hatte, dachte ich mit einem Anflug von leisem Sarkasmus.
Nach Mutters Tod habe ich mich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und Trost in ihren privaten Dingen gesucht. In ihren Briefen und Tagebüchern. Zu meinem grenzenlosen Erstaunen fand ich meine Adoptionsunterlagen! Du musst Dir das mal vorstellen, Carin! Als dreißigjähriger Mann und bald dreifacher Vater erfahre ich, dass meine Eltern gar nicht meine Eltern sind! Sie haben es mir nie gesagt, und auch sonst wusste niemand davon. Ein zweiter entsetzlicher Schock, der mich vollends aus der Bahn geworfen hat. Ich habe meinen Vater zur Rede gestellt, der ja selbst noch an Mutters Tod »knabbert«. Vater ist aus allen Wolken gefallen, dass ich »herumgeschnüffelt« habe, und wir sind uns lange böse gewesen.
Ich las weiter:
Mein Vater Viktor wollte das Geheimnis meiner Adoption mit ins Grab nehmen, genau wie meine Mutter. Ich sollte es nie erfahren und frage mich natürlich heute, ob das nicht vielleicht sogar das Beste für mich gewesen wäre.
An dieser Stelle ließ ich den Brief sinken. Obwohl er immer nur »Ich, ich, ich« schrieb, konnte ich ihn verstehen. Ja, für IHN wäre es sicherlich das Beste gewesen, wenn seine Welt heil geblieben wäre. Was für ein scheußliches Gefühl, von den eigenen Eltern dreißig Jahre lang belogen worden zu sein! Was für ein noch scheußlicheres Gefühl, von der leiblichen Mutter irgendwann weggegeben worden zu sein! Ich begriff jetzt, warum er in die Arktis, ins ewige Eis wollte: Er wollte seine Gefühle buchstäblich einfrieren.
Plötzlich habe ich eine ganz andere Biografie, schrieb mein Sohn Oliver. Ich bin nicht der Sohn des Reeders Viktor Stiller und seiner Frau Beatrice, genannt Trixie, die aus einer Düsseldorfer Unternehmerfamilie stammt. Sondern der Sohn einer ledigen Bibliothekarin aus Bayern, die noch bei ihrer Mutter wohnt. Nimm das bitte nicht persönlich, Carin, aber Du bist eben doch aus ganz anderem Holz geschnitzt, wie mein Großvater sagen würde. Dabei IST er ja gar nicht mein Großvater! Obwohl er sich immer dafür gehalten hat! Was also habe ich von Dir in den Genen und was von meinem Erzeuger? Gern würde ich wissen, wie Du aussiehst, Carin. Ich bin also in der Nähe von München geboren. Natürlich stelle ich mir klischeehaft eine dralle Blonde im Dirndl vor, die vielleicht auf dem Oktoberfest gekellnert hat – bin ich da entstanden? Womöglich hinter einem Bierzelt? Ich weiß, ich habe eine blühende Fantasie – wäre ich sonst Autor und Journalist geworden? Aber vielleicht stimmt dieses Klischee überhaupt nicht. Dennoch drängt sich mir jetzt mit aller Macht die Frage auf: Wer ist mein Erzeuger? Ein Besucher des Oktoberfests? Ein Vertreter auf der Durchreise oder ein ausländischer Tourist? Meine Eltern haben mir meine dunklen Augen und den dunklen Teint immer damit erklärt, dass der Vater meiner Mutter ebenfalls ziemlich »dunkel« gewesen sei. Ich kannte Opa Bruno aus Benrath nur mit weißen Haaren, und wenn ich rückblickend darüber nachdenke, war er nicht wirklich dunkel.
Wenn ich Dich also baldmöglichst besuche, liebe Carin, möchte ich unbedingt auch etwas über meinen leiblichen Vater erfahren. Auch ihn möchte ich finden und kennenlernen.
Nachdem ich nun die Wahrheit über meine eigentliche Abstammung weiß, kann ich nicht eher zur Ruhe kommen, bis ich meine Wurzeln gefunden habe. Gleichzeitig brauche ich Zeit und Abstand, um das alles erst mal zu verdauen.
Ich bin überzeugt, dass Du das verstehst und mich in meinen Bemühungen unterstützen wirst, Carin. Das alles wollte ich Dir noch am Telefon sagen, aber dann war unser Gespräch beendet, und meine
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