Verwechseljahre: Roman (German Edition)
liegt nichts mehr an«, sagte Rainer vielsagend.
»Ich bin heute nicht so gut drauf«, murmelte ich erschöpft.
»Hauptsache, du bist gut drunter!«
Mit den Augen wies ich auf die Wohnungstür.
Doch Rainer ließ sich nicht abweisen. Er zog seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel. Zum Glück nicht aus der Hose.
»Ich hab übrigens auch noch deine Post mit hochgebracht.«
Rainer zog etwas aus der Innentasche seines unsäglichen Rentnerblousons. »Ein Brief aus Hamburg.«
Zitternd riss ich ihm den Umschlag aus der Hand. »Bist du bescheuert? Und das sagst du mir erst jetzt? Was geht dich meine Post an?«
»Ich dachte, ich spare dir den Weg zum Briefkasten? Wo du doch so müde bist?«
Ich starrte auf den Absender. Roman Stiller. Hamburg Blankenese, Auf dem Elbdeich 64.
»Rainer«, sagte ich mit schneidender Stimme: »Raus!«
»Also bitte, ich habe es doch nur gut gemeint!«
»Rainer, ich SCHLAGE dich!« Wild entschlossen griff ich zu Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Es war eine gebundene Ausgabe.
Da verzog er sich überraschend einsichtig in seinen Bau.
Als Erstes fiel mir ein Schwarz-Weiß-Foto in die Hände. Mein Herz raste. Alessandro Bigotti!
Nein, Quatsch. Oliver.
Wieder Quatsch. Roman.
Er hatte kinnlange schwarze Haare, einen Dreitagebart, eine markante Designerbrille, die ihn älter machte, und ernste, tiefbraune Augen. Sein schneeweißer Hemdkragen blitzte unter einem dunklen, perfekt sitzenden Jackett hervor. Das ideale Vorzeigefoto für ein Eheanbahnungsinstitut. Der perfekte Kandidat für die heiratswillige Dame aus gutem Hause. Intellektuell, erfolgreich, gut situiert. Sein Kinn ruhte nachdenklich auf seiner Hand. Das Bild wirkte gestellt. Hatte er es extra für mich, seine Mutter, anfertigen lassen? Oder war es sein offizielles Bewerbungsfoto für was auch immer? Es war kein Schnappschuss. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, ihn im Kreise seiner Familie zu sehen, lachend mit seiner Frau Silke, an jeder Hand ein Kind. Lange betrachtete ich das Bild. Meine Hände zitterten. Er wirkte – herablassend. Fast arrogant. Das also war aus meinem kleinen, unschuldigen Oliver geworden.
Ich kramte meine Lesebrille hervor und griff nach dem beiliegenden Brief. Er war ziemlich umfangreich und auf dem Computer geschrieben. Der Briefkopf war der eines renommierten Verlags. Einige seiner Bücher hatte ich sogar in meiner Bibliothek.
Liebe Frau Bergmann, las ich. Oder darf ich Sie gleich Carin nennen? Obwohl ich eindeutig der Jüngere bin, würde ich vorschlagen, dass wir uns duzen. Also, mein Name ist Roman Stiller. Ich bin dreißig Jahre alt und Sportjournalist.
Das wusste ich ja alles schon. Mit zitternden Fingern überflog ich den weiteren Text.
Nachdem wir am Samstag telefoniert haben und Du so plötzlich auflegen musstest, kam ich nicht mehr dazu, Dir alles Weitere über mich zu erzählen.
Aha, dachte ich leicht enttäuscht. Da steht nicht etwa, dass ich nicht mehr dazu kam, von UNS zu erzählen. Zum Beispiel von den damaligen Umständen, die mich gezwungen hatten, ihn wegzugeben.
Ich hatte die wunderbarsten Eltern, die ich mir wünschen konnte. Ich bekam alles, was ich wollte, und war schon als Fünfzehnjähriger zum wiederholten Mal auf Weltreise. Ich speiste jeden Abend mit meinen Eltern am Kapitänstisch und lernte »Gott und die Welt« kennen. Auf diese Weise lernte ich auch mehrere Sprachen, sodass ich Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch fließend beherrsche. Ich habe dann Sportjournalismus studiert und für viele verschiedene Fernsehsender gearbeitet. Meine Frau Silke lernte ich im Studium kennen. Sie ist Sozialarbeiterin, kümmert sich um Obdachlose, Gefängnisinsassen, Asylsuchende … und arme Adoptivkinder wie mich. Wie Du schon weißt, haben wir zwei Kinder und erwarten ein drittes. Was ich Dir nicht mehr sagen konnte, schreibe ich Dir jetzt in aller Eile, da ich morgen für längere Zeit auf Reisen gehe: auf eine Expedition in die Arktis. Auf dieses Abenteuer habe ich mich schon lange gefreut und möchte es noch vor der Geburt unseres dritten Kindes in Angriff nehmen.
Alles Sätze mit »Ich«, dachte ich ein wenig enttäuscht. Wann kam endlich das »Du«?
Hastig las ich weiter.
Nun, wie habe ich überhaupt herausgefunden, dass ich adoptiert wurde? Meine geliebte Mutter, der ich sehr nahe stand, ist vor Kurzem an Krebs erkrankt. Auch das habe ich in unserem Telefonat schon angedeutet. Ja, schlimmer noch, sie hat sich nach der Diagnose das Leben genommen.
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