Verwechseljahre: Roman (German Edition)
sollten die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Viktor Stiller sah mich besorgt an.
So. War die Kunde vom Mafia-Besuch im Maiblümchenweg 17 a also schon bis nach Hamburg gelangt?
Mit fester Stimme sagte ich: »Um achtzehn Uhr habe ich hier Schluss. Wenn Sie so lange warten können …«
Währenddessen wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Ich KONNTE ja gar nicht! Ich war ja verabredet! Um achtzehn Uhr wartete doch Rainer auf mich! Wir wollten doch heute über unsere Heirat sprechen! Nachdem ich ihn an dem Abend, an dem es zu dieser heftigen Knutscherei gekommen war, versetzt hatte, war er sehr verletzt gewesen. Weitere grüne Briefe hatten das bezeugt. Ich hatte versucht, ihm zu erklären, dass Mutter in dieser Nacht gar nicht zur Ruhe gekommen sei, und er hatte mich an mein Eheversprechen erinnert. Schließlich hatte ich ihn auf heute Abend vertröstet. Billi, meine heißgeliebte Freundin, wollte solange auf Mutter aufpassen. Letztere fühlte sich in letzter Zeit gar nicht wohl, aber es war ihr unendlich wichtig, dass Rainer und ich heute Abend zusammen Verlobung feierten. All das wollte ich gerade dem Reeder erklären, doch der hatte sich bereits zum Gehen gewandt. Herr Stiller hob grüßend die Hand und eilte mit wehendem Mantel zum Ausgang. Ich holte tief Luft und starrte ihm nach.
Hallo, Sie! Ich kann doch nicht! Ich muss jemanden heiraten! Ich meine, wenigstens verloben! Um achtzehn Uhr werde ich abgeholt!, arbeitete es in mir. Doch laut sagte ich: »Könnten Sie bitte ein andermal …« Die Luft entwich meiner Lunge wie einem Luftballon. »… wiederkommen.«
Weg war er. Ich konnte es nicht fassen. Viktor Stiller, der milliardenschwere Reeder, hatte sich in meine bescheidene Kleinstadtbibliothek nach Butterblum bemüht! War er gerade zufällig auf der Durchreise? Wollte er in seine südfranzösische Villa? Oder war er möglicherweise … Ich meine, war ich das ZIEL seiner Reise? Hatte er ein ernsthaftes Interesse an einem Meinungsaustausch über unseren gemeinsamen – Sohn? O Gott! Wenn man es recht bedachte, waren wir jetzt seine Eltern. Und wir hatten ein echtes Sorgenkind. Das war die schlechte Nachricht. Die gute war: Ich würde heute Abend NICHT mit Rainer übers Heiraten sprechen.
Mein Herz machte wieder ein paar nervöse Hopser. Der Reeder sah ja leider wahnsinnig gut aus! Hastig suchte ich die Damentoilette auf und sah entsetzt in den Spiegel. Warum hatte ich ausgerechnet heute dieses graue, nichtssagende, wadenlange – Ding an? Und die absatzlosen Allwetterstiefel? Dieses peinliche Rollkragen-rühr-mich-nicht-an-Ensemble aus Jersey, das ich immer trug, wenn ich mit Rainer übers Heiraten reden musste?
Nein, Quatsch! Heute Morgen war es herbstlich windig gewesen. Deshalb. Und diese Unfrisur, Marke »Ich bin sowieso niemand zum Heiraten«? Meine Güte, konnte ich nicht EINMAL auf alles gefasst sein wie andere Frauen auch? Und geschminkt war ich so was von gar nicht! Hätte er sich nicht telefonisch anmelden können? Dann hätte ich noch einen Friseurtermin gemacht und meine Modeberaterin gefragt! Ratlos drehte ich mich um meine eigene Achse. So konnte ich doch unmöglich mit diesem distinguierten Herrn über unseren Sohn sprechen!
Ich meine, für Rainer hätte es gereicht, aber für Viktor Stiller … Ich warf meinem Spiegelbild einen letzten, bedauernden Blick zu und eilte wieder in den vollen Bibliothekssaal. Heute war Freitag, da wollten noch viele vor dem Wochenende Bücher ausleihen.
»Moment, Sie sind sofort dran.«
Modeberaterin. Genau. Wozu hat man Freundinnen? Sofort rief ich Sonja an, während ich den Kunden, die bei mir anstanden, Bücher abstempelte und ihre Ausweise nur zum Schein kontrollierte. Stempel drauf, patsch! Der Nächste bitte!
»Er ist da!«, flüsterte ich in den Hörer.
»Wer?«
»Der König der Löwen!« Ich versuchte, cool zu klingen, aber was herauskam, war nur ein aufgeregtes Gestammel.
»Der Großwildjäger aus Hamburg?«
»Hast du ein paar Klamotten für mich?«
Die Kunden staunten nicht schlecht, weil ich ihnen die Bücher eher achtlos hinwarf und mich gar nicht um das Rückgabedatum kümmerte. Außerdem waren sie es nicht von mir gewohnt, dass ich dabei Privatgespräche führte, und dann auch noch welche von so profaner Natur!
Sonja war innerhalb von einer Viertelstunde da. Ich erkannte sie kaum! Ihre Haarverlängerungen waren – ähm – ab. Sie trug einen sehr gewagten Kurzhaarschnitt, Farbe Silberweiß mit ein paar lila Strähnchen
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