Verwegene Herzen (German Edition)
wäre, hatte sich um den Schmelzofen gekümmert und den Tiegel im Auge behalten. Jetzt war er gegangen, um sich im Schwertkampf zu üben – gegen die umstehenden Bäume. Daher war es nun an ihr, gegen die Übelkeit zu kämpfen, während sie den Beeten ihre kostbare, übelriechende Flüssigkeit entlockte.
Nachdem sie ein großes Gefäß voll gesammelt hatte, ging sie zurück zur Hütte, wo Jacob den Tiegel zum Abkühlen hingestellt hatte. Sie wischte sich die Hände an den unteren Falten ihres Kleides ab und suchte dabei nach einem Stück Stoff, das noch nicht mit den Beeten in Berührung gekommen war.
Schließlich hielt sie inne und lauschte. Aus einiger Entfernung, aus südlicher Richtung, hörte sie Jacob, der Metall gegen Holz schlug. Ansonsten war der ganze Wald so still wie sie es war – gemeinsam schienen sie den Atem angehalten zu haben. Sie war allein. Und für einen Moment gelang es ihr, sich einzureden, dass Einsamkeit ein Segen war.
Statt sich um die restliche Formel zu kümmern, stieg sie auf die Bank, die neben dem langen Esstisch stand. Mahlzeiten, Experimente, Studien – der Tisch hatte sie durch die Abläufe ihres ganzen bisherigen Lebens begleitet.
Das Leben mit ihrem Vater. Das Leben mit Ada. Ein Leben, das es nicht länger gab.
Sie stemmte den Wanderstab auf den Boden, suchte mit den Sohlen ihrer Stiefel Halt und richtete sich langsam auf. Die Bank kippte nicht. Sie reckte sich hoch, tastete in die Luft. Dann ging sie auf der Bank weiter und hob eine Hand zur Decke. Schweiß lief ihr über den Nacken und über den Rücken, aber sie machte weiter.
Scarlet musste sich täuschen.
Aber er hatte recht.
Sie berührte Blütenblätter, die so trocken waren wie Herbstlaub. Die Blumen, die sie berührte und von den Dachbalken und dem Reetdach nahm, waren sorgfältig getrocknet worden. Im Abstand von nur wenigen Fuß sammelte sie sechs kleine Sträuße. Die spröden Blätter kitzelten, als sie sie zwischen ihren Fingerspitzen rieb, ein Klang wie das letzte Knistern eines verlöschenden Feuers. Sie hielt die Nase an die sorgfältig zusammengebundenen Sträuße, doch kein Duft entströmte ihnen, um sie zuordnen zu können.
Schwer ließ sie sich auf die Bank sinken. Scarlet hatte gesagt, dass drei Dutzend Gebinde die Hütte zierten. Drei Dutzend Mal hatte Ada daran gearbeitet, verschiedene Wildblumen zu trocknen. Drei Dutzend Mal hatte sie den Tisch benutzt, um sie an der Decke zu befestigen.
Und drei Dutzend Mal war Meg zu beschäftigt gewesen, um es zu bemerken.
Draußen vor der Hütte wurde es unruhig. Sie errötete vor Schuldbewusstsein. Dann erhob sie sich, drehte sich herum und überlegte, wo sie die Blumen in ihrer Hütte verstecken könnte. So wie die Schande, dass sie mit ihrer eigenen Schwester wie eine Fremde gelebt hatte.
Sie fand das dicke, zerlesene Buch ihres Vaters und schlug die abgegriffenen Seiten auf. Dutzende Briefe lagen ungeordnet dazwischen, Briefe, die ihr Großonkel Adelard of Bath geschrieben hatte, der berühmte Lehrer von König Richards verstorbenem Vater, Henry II. Sie wusste, wie jeder einzelne davon sich anfühlte. Die verzierte Schrift des berühmten Gelehrten konnte sie nicht mehr sehen, aber sie wusste, was in den Briefen stand: Beobachtungen, Übersetzungen, Theorien über die Welt der Natur, und die Geschichten von Adelards weiten Reisen.
Während sie die Seiten berührte, dachte sie an diesen erstaunlichen Verwandten, seine Reisen und seine großartigen Ideen. Ihr Vater hatte ihr und Ada diese Briefe wie ein Bänkelsänger vorgetragen, hatte ihre Neugier geweckt und sie veranlasst, Fragen zu stellen. Sie hatten ihre eigenen Beobachtungen beigetragen und das Familienerbe erweitert.
Und zu diesem Familienerbe fügte Meg die Blumen hinzu. Behutsam presste sie den getrockneten Strauß gegen das gegerbte Leder des hinteren Einbands und berührte die brüchigen Blütenblätter.
„Sie sind hübsch“, erklang plötzlich Will Scarlets Stimme.
Meg schlug das Buch zu und fuhr herum. Mit einem dumpfen Knistern gaben die getrockneten Blätter nach. Er kam zu ihr, füllte den kleinen Raum mit seiner unverkennbaren Gegenwart. Sie erschauerte.
„Ihr seid dafür nach oben gestiegen?“
„Geht weg.“
Noch keine drei Stunden war es her, da hatte Hugo neben ihr gestanden und mit abscheulichen Bemerkungen ihren Selbstschutz durchbrochen. Aber Scarlet regte ihre Sinne an, schüchterte sie mit einer anderen Art von Bedrohung ein. Selbst aus respektvoller Entfernung
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