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Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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ausgeschlossen, gemieden wegen seiner körperlichen Defekte und gefürchtet wegen seiner abnormen Kraft. Die wenigen Familien, die den störrischen, unberechenbaren Jungen in Pflege nahmen, schickten ihn bald wieder voller Entsetzen zurück. Bereits in der Pubertät war er kräftiger als die meisten erwachsenen Männer, sein Leben wurde durch Gewalt und Einschüchterung geprägt.
    Dann begannen die Anfälle.
    Am Anfang nahm er sie gar nicht wahr. Da sie sich meistens in der Nacht ereigneten, spürte er am nächsten Tag nur eine Benommenheit und Lethargie und bemerkte unerklärliche blaue Flecken oder blutende Wunden an seinen Händen. Das Problem kam erst in einer Jugendstrafanstalt ans Licht, weil sein nächtliches Verhalten den anderen Häftlingen Angst einjagte. Monk hatte Wutanfälle, lachte wie ein Irrer und reagierte auf jeden Versuch, ihn zu beruhigen, mit verheerender, zügelloser Gewalt. Am nächsten Morgen konnte er sich an nichts erinnern.
    Zuerst glaubte er, die Anschuldigungen und darauffolgenden Bestrafungen wären lediglich eine neue Form derSchikane, und wurde noch verschlossener und aggressiver. Nie kam ihm der Gedanke, um Hilfe zu bitten, und wenn ihm welche angeboten worden wäre, was nicht geschah, hätte er sie abgewiesen. Gefängnispsychologen sprachen von antisozialem Verhalten, von triebgesteuerten Störungen und soziopathischen Neigungen. Ein Blick genügte, um die schlimmsten Vermutungen zu bestätigen. Er war ein Irrer, ein Monster.
    Er war Monk.
    Als er älter wurde, begann er durchs Moor zu streifen. Die ursprüngliche Landschaft mit ihren Felsformationen und dornigen Ginsterbüschen hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Vor allem aber konnte er dort allein sein. Eines Tages entdeckte er an einem Berghang ein überwuchertes Loch. Es war der Eingang zu einer alten Mine, was er damals allerdings nicht wusste. Diese Entdeckung eröffnete ihm buchstäblich eine neue Welt. Er begann, nach den alten Minen und Höhlen zu suchen, die sich unter dem Dartmoor verbargen, und erforschte sie. Bald verbrachte er genauso viel Zeit in den kalten, unterirdischen Schächten wie in dem heruntergekommen Wohnwagen, der sein Zuhause war. Dort unten war es egal, ob es Tag oder Nacht war oder welche Jahreszeit oben herrschte. In den Schächten fühlte er sich sicher. In Frieden. Selbst die Anfälle schienen seltener zu werden.
    Als er eines Nachts auf dem Weg ins Moor war, begegnete er einer Jugendbande. Er war fast eine Woche weg gewesen und hatte auf einer Baustelle gearbeitet, wo er bar auf die Hand ausgezahlt worden war. Jetzt, mit Geld in der Tasche, verspürte er ein so starkes Bedürfnis, die Stadt zu verlassen, dass seine Haut überall juckte und kribbelte. In seinem ganzenKörper gärte und brodelte es vor lauter Unruhe, und in seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das häufig einen bevorstehenden Anfall ankündigte.
    Zuerst ignorierte er die unter einer kaputten Straßenlaterne kauernden Jugendlichen mit ihren Kapuzenjacken. Zwischen ihnen lag ein Mädchen auf dem Boden, das sie offenbar gejagt und in die Enge getrieben hatten. Monk wäre gleichgültig vorbeigegangen, wenn sie nicht so gehässig und grausam gelacht hätten. Böse Erinnerungen an seine Kindheit kamen in ihm hoch. Nachdem er ein paar von ihnen verprügelt hatte, hatte sich die Bande aus dem Staub gemacht und die einsame Gestalt auf dem Boden zurückgelassen. Monks Aggression war noch nicht abgeflaut, am liebsten hätte er weitergeschlagen, doch das Mädchen auf dem Boden hatte ohne Angst zu ihm hochgeschaut und ihn schüchtern angelächelt.
    Ihr Name war Angela Carson.
    «Sie
kannten
sie?»
    Die Frage war mir unwillkürlich entschlüpft. Laut der Berichte, die ich gelesen hatte, war Monk vor dem Mord im Viertel seines vierten Opfers gesehen worden, doch man war davon ausgegangen, dass er ihr einfach nachgestellt hatte. Niemand hatte angenommen, dass er Angela Carson gekannt hatte, geschweige denn, dass die beiden eine Art Beziehung gehabt haben könnten.
    Der Blick in Monks Augen war Antwort genug.
    Nach der ersten, zufälligen Begegnung hatten sie sich zueinander hingezogen gefühlt. Beide waren einsam. Beide waren, auf verschiedene Weise, von der Gesellschaft ausgegrenzt. Angela Carson war fast völlig taub, und die Zeichensprache fiel ihr leichter als die wörtliche Rede. Monkwusste nicht, wie, doch es gelang den beiden zu kommunizieren. In der einfachen jungen Frau fand er endlich einen Menschen, der weder abgestoßen

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