Verwuenscht und zugenaeht
baut sich vor mir auf. Ich muss stehen bleiben, um sie nicht über den Haufen zu rennen. Das blonde Haar fällt ihr lose ins Gesicht und sie streicht es mit ihren frisch manikürten Händen zurück. Um ihren Hals baumelt an einer hauchfeinen silbernen Kette ein Edelsteinanhänger.
Ob sie die Kette zum Dreimonatigen geschenkt bekommen hat? Ich kann mich nicht mal daran erinnern, ob sie sie gestern Abend schon getragen hat, aber ich bin ja auch nicht näher als dreiÃig Meter an sie herangekommen.
»Ich habe gestern völlig das Zeitgefühl verloren. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, als ich auf die Uhr gesehen habe. Wir sind direkt zu dir nach Hause gefahren und standen dann auch noch im Stau. Ein riesiger Sattelschlepper hat den ganzen Verkehr aufgehalten und â¦Â«
Sie merkt, dass ich ihr nicht zuhöre.
»Ist ja auch egal, was passiert ist. Ich mache es wieder gut, versprochen.« Sie sieht mich mit einem flehentlichen Blick an.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ich habe dir mindestens Hundert SMS geschickt.«
»Mein Akku war leer.«
Ich drehe eine Strähne meiner noch feuchten Haare um den Finger und reiÃe mich zusammen. »Der ganze Abend war die reinste Hölle. Einfach alles! «
Sie schürzt mitfühlend die Lippen. »Ich übernehme eine ganze Woche deine Biohausaufgaben! Ich borge dir alles aus meinem Kleiderschrank, was du willst. Ich gehe mit dir zu einem Konzert deiner Wahl.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Egal welches Konzert?«
»Jedes Konzert, auf dem ich nicht in eine Schlammgrube geworfen werde oder so.«
Meine Mundwinkel zucken unwillkürlich und ich sehe sie lange an. Wenn ich noch neunundneunzig andere Freunde hätte, könnte ich ihr für ein oder zwei Tage die kalte Schulter zeigen. Aber sie ist meine einzige Freundin, und meine Entschlossenheit, nicht so schnell nachzugeben, beginnt schon zu bröckeln.
»Schwörst du es? Ich verzeihe dir erst, wenn du dein Versprechen eingelöst hast.«
Sie atmet erleichtert auf. »Ich schwöre.«
»Na schön.« Wahrscheinlich ist sie wirklich nicht mit Absicht so spät aufgetaucht. AuÃerdem ärgere ich mich eher über diese blöde Party als über Nicole. »Wie war denn eigentlich euer Abendessen?«
Ihre Miene hellt sich auf. »Das Essen war sagenhaft. Ich hatte Risotto â oh Gott, mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke. Und erst die Aussicht! Die Dachterrasse ist zwar nur im Sommer geöffnet, aber von den Fensterplätzen aus hat man auch einen herrlichen Blick über das Wasser und kann die Fähren und Segelboote sehen. Ich hätte die ganze Nacht dort sitzen und aufs Meer blicken können. Und Ben hat immerzu Witze über den Kellner gemacht. Ich musste so lachen, dass ich einmal sogar meine Suppe ausgespuckt habe, aber Ben hat so getan, als hätte er es nicht bemerkt. Total süÃ. Wir haben übrigens auch über dich gesprochen. Ben denkt, du bist eine Rebellin.«
Eine Rebellin? Ben denkt über mich nach?
Ich spüre erneut Ãrger in mir hochsteigen. Offensichtlich hatten die zwei sehr viel Spaà ohne mich. »Dafür hat es sich also gelohnt, meine Party zu verpassen?«
»Ja ⦠nein, nein, natürlich nicht.«
»Wie auch immer, ich hab mich schon damit abgefunden.« Natürlich habe ich das nicht. »Aber du schuldest mir mindestens Hundert deiner Schoko-Minz-Brownies.«
Sie lächelt. »Ich fange gleich heute Abend mit Backen an.«
Wir gehen weiter. »Und du übernimmst meine Biohausaufgaben für den Rest des Schuljahres . Ich bin jetzt schon verloren.«
Nicole lacht. »Heute Abend besuchen wir meine Grandma. Wie wäre es, wenn wir uns morgen treffen? Ich könnte dir den Aufbau der Zelle erklären.«
Ich nicke und wir betreten den Klassenraum. Unser Streit ist schon fast vergessen. Wenn ich die Party doch auch so schnell vergessen könnte.
Als ich ein paar Stunden später im Fotokurs sitze, muss ich immerzu an Nicole und den unausweichlichen Moment denken, in dem ihr klar werden wird, dass sie über mich hinausgewachsen ist. Wir hatten unseren Streit beigelegt, aber was, wenn das nur der Anfang gewesen war?
Wenn sie mich sogar an meinem Geburtstag im Stich lässt, was wird dann als Nächstes kommen?
Eigentlich sollte ich an meinem Projektthema arbeiten, doch stattdessen schiele ich zu ihr
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