Verwuenscht und zugenaeht
lavendelfarbene Bluse und eine tadellos sitzende khakifarbene Hose. Ihr braunes Haar â ein dunklerer und viel schönerer Farbton als meiner â ist zu einer perfekten Vorstandssitzungsfrisur gefönt. »Warum bist du nur so undankbar? Ich gebe dir alles, was du brauchst, und trotzdem trägst du immer nur diese alten, schäbigen Klamotten und beklagst dich die ganze Zeit.«
Ich klappe den Mund zu und beiÃe die Zähne zusammen. »Stimmt, Mum. Du gibst mir alles, was ich brauche. Schon kapiert.«
»Kayla Louise! Vor noch nicht einmal einer Woche habe ich eine groÃartige Party für dich veranstaltet!«
»Tatsächlich, Mum? War die Party für mich oder für deine Firmenkunden? Ich konnte nämlich kaum einen Unterschied erkennen.«
Mum schaut auf die Uhr und ich gebe mir die gröÃte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Sie wird nie Zeit für mich haben. »Ich muss los und Hausaufgaben für Bio erledigen«, sage ich und öffne ruckartig die Haustür.
»Soll ich dich fahren? Ich bin spät dran, aber â¦Â«
»Nein danke, ich kann laufen«, erwidere ich und gehe schnell zur Tür raus. Ich weià genau, was sie jetzt macht. Sie legt einen Zwanziger und einen Zettel mit der Nachricht, dass wir uns etwas zu Essen bestellen sollen, auf den Küchentresen. Heute werde ich sie wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Verdammt! Ich hätte sie nach der Bäckerei fragen sollen, bevor ich die Klappe so weit aufreiÃe. Und nachdem ich auch noch aus dem Haus gestürmt bin, kann ich wohl kaum noch einmal umkehren. Ich muss mich endlich darauf konzentrieren, das Problem zu lösen, sonst wird das nie was.
Die Stadtbücherei ist nur einen kurzen FuÃmarsch von unserem Haus entfernt. Sie ist sonntagvormittags geöffnet, was in meinen Augen wenig Sinn macht, doch ich will mich nicht beschweren, denn dadurch habe ich jetzt wenigstens einen Rückzugsort. Ann wird wahrscheinlich noch ein oder zwei Stunden schlafen und sich dann fragen, wo ich bin. Wenn ich Glück habe, wird sie auf der Suche nach mir auf die StraÃe laufen und von einem Truck erfasst.
Okay, das ist gemein.
Auf dem Weg zur Bücherei lasse ich die Finger an einem Maschendrahtzaun entlangwandern und hänge meinen Gedanken nach. In der Ferne erhebt sich das Kaskadengebirge. Die meisten Bäume sind immergrün, doch ein paar vom Herbst verfärbte Laubkronen leuchten wie orange und rote Sprenkel an den Berghängen auf. Dahinter ragt der schneebedeckte Gipfel des Mount Rainier in den Himmel. Enumclaw erstreckt sich auf einer Hochebene, die über zweihundert Meter über dem Meeresspiegel liegt. Die Stadt wurde auf einem alten Murgang erbaut, der vor zigtausend Jahren entstanden ist, als der Rainier zuletzt ausbrach. Sehr beruhigend, wenn man darüber nachdenkt.
Doch mich beschäftigt im Moment etwas ganz anderes.
Welcher Wunsch wird wohl heute in Erfüllung gehen? Werde ich den ganzen Zirkus aufhalten können, bevor Ben sich auf mich stürzt? Ich ärgere mich immer noch über mich selbst, weil ich mich mit Mum angelegt habe, anstatt einfach eine nette Unterhaltung anzufangen und sie nebenbei nach der Bäckerei zu fragen. Aber nein, ich musste ja alles verderben.
Wird Ben wirklich versuchen, mich zu küssen? Es steckt zwar eindeutig Magie dahinter, aber er ist keine Kaugummikugel. Er hat einen eigenen Willen. Vielleicht wird er mich gar nicht küssen. Vielleicht wird er nur den Gedanken im Kopf haben, ihn ignorieren und stattdessen Nicole küssen. Vielleicht ist es einfach nur blöd, dass ich mir überhaupt Sorgen darüber mache.
Ich seufze und schieÃe einen Stein über den Gehweg. Er fliegt über die Betonplatten und springt auf die StraÃe. Jemand hupt, als hätte ich gerade einen Felsbrocken auf die Fahrbahn gestoÃen und nicht einen kleinen Kieselstein. Ich winke den Wagen vorbei und ziehe die Gurte an meinem Rucksack enger um die Schultern. An einem frühen Sonntagmorgen sollte man nicht hupen. Das weckt ja die halbe Nachbarschaft.
Es hupt erneut und ich drehe mich zu dem Wagen um. Doch meine wütende Bemerkung bleibt mir im Hals stecken und ich bleibe verwirrt stehen.
Das ist das Verrückteste, was ich jemals in Enumclaw gesehen habe.
Ein Typ sitzt in einem leuchtend gelben Cabriolet mit offenem Verdeck, dabei sind bestimmt nicht mehr als elf Grad und der Tau auf dem Gras ist noch nicht
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