Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
Verlegene Gelehrte scharten sich um ihn und maßen, wogen, machten Notizen und nahmen Proben. Ängstliche, aber neugierige Scharen gewöhnlicher Sterblicher pflegten ebenfalls zu dem Ort zu wallfahrten, um darauf zu zeigen, sich die Nase zuzuhalten und sich über die Größe des Walpenis zu ekeln.
Auch wenn die unbekannten Wesen, die sich unter dem Oberflächengeglitzer bewegten, natürlich Furcht auslösten, war ihre flüchtige Erscheinung nicht das größte Problem für die Menschen an Bord des still liegenden Schiffs. Tag um Tag verging, ohne dass ein einziger Windhauch die drückende Hitze milderte. Schließlich begannen Wasser und Essen knapp zu werden. Erik kam gut zurecht, weil der Onkel reichlich Nahrungsmittel eingekauft hatte, darunter drei große, gelbe Parmesankäse, Mengen von Anchovis, über 400 Liter Rheinwein und eine große Tonne Erbsen – die Letztere hatte er dem Reichskanzler Axel Oxenstierna zum Geschenk machen wollen. Aber ihre Mitpassagiere, 27 Frauen und Männer, darunter einige Handwerksgesellen, waren weniger glücklich dran. Wie es der Brauch war, hatten sie sich nur für acht Tage verproviantiert, und ihr Essen und ihre Getränke gingen nun zur Neige. Erik berichtet, dass sie
begannen, eine solche Not zu leiden, … da sie kein Stück mehr zu essen und noch weniger zu trinken hatten, daß angesichts ihres Jammerns und Klagens Steine ein Mitleid hätten haben müssen. Alldieweilen es schon die dritte Woche war, seit wir unter Segel gingen, so wollte auch der Schiffer (wiewohl ihm unter der Hand zehn Reichstaler für ein grobes Brot geboten wurden) nicht das Geringste vom Vorrat seines Schiffs verlieren, in Anbetracht dessen, daß er es für seine Mannschaft benötigte.
(Wie verzweifelt sie waren, geht daraus hervor, dass zehn Reichstaler mehr als der Monatslohn eines Gesellen waren und im Normalfall ausgereicht haben dürften, eine ganze Kuh zu bezahlen.) Das Jammern der hungernden Menschen berührte Erik und seinen sonst so knauserigen Onkel. Er ließ schließlich Wein und Erbsen an die 27 Personen verteilen und rettete ihnen so das Leben.
Aber am 8 . Juni blähte der Wind die schlaffen Segel auf, und das Schiff begann, sich endlich dem Horizont zuzubewegen. Sie machten gute Fahrt, und nach zwei Tagen machten sie in Stockholm fest. Erik war nach Hause zurückgekehrt, in ein Land, das vom Krieg gezeichnet war.
Schweden war an Fläche ein großes Reich, praktisch eines der größten in Europa. Es umfasste Finnland, das seit dem Mittelalter die östliche Hälfte des Reiches ausmachte, aber auch die verheerten Provinzen Estland und Livland – und die Regierenden taten seit einiger Zeit, was sie konnten, um dem Reich noch weitere ausländische Landgebiete einzuverleiben. Doch diese ganze imposante Ausdehnung war nicht so schrecklich viel wert, denn das meiste war unbesiedeltes Ödland, stille Weiten von Wald und Fels und Moor. Das Reich war nämlich dünn besiedelt und lag in der Bevölkerungsdichte weit hinter den Ländern des Kontinents; in Italien kamen etwa 44 Einwohner auf den Quadratkilometer, in den Niederlanden 40 , in Frankreich 34 , in Deutschland 28 und auf der Iberischen Halbinsel 17 ; in Schweden und Finnland verloren sich ein bis zwei Personen auf der gleichen Fläche, und dies in einer Epoche, in der eine zahlreiche Bevölkerung als großer Reichtum galt, ja, als das Fundament der Stärke eines Reiches – die Bevölkerungszahlen waren deshalb lange eins der am strengsten gehüteten Staatsgeheimnisse –, weshalb die Machthaber in allen Ländern stets danach strebten, die Einwohnerzahl zu vermehren.
Im schwedischen Reich lebten zu dieser Zeit vielleicht 1 250 000 Menschen. (In Europa insgesamt lebten rund 103 Millionen.) Der Bevölkerungszuwachs war unfassbar gering. Er hatte ein so langsames Tempo, dass es – theoretisch gesehen – 400 Jahre gedauert hätte, bis sich die Bevölkerung verdoppelte. Niemand dachte indessen in solchen Bahnen, denn der Zuwachs war in den meisten Fällen so niedrig, dass er kaum wahrzunehmen war. Die Ursache war ein ständiges Pendeln zwischen Zuwachs und Rückgang, Fortschritten und Rückschlägen, Ebbe und Flut, wo die Vermehrung der Menschen in einem Zeitabschnitt ein paar Jahre später beinahe unfehlbar durch eine Missernte oder eine neue Epidemie oder einen neuen Krieg wieder getilgt wurde. So war das Leben, und so war es immer gewesen. Aber jetzt war es schlimmer als lange zuvor. Seit 1611 hatte das Volk in Schweden nur zwei Jahre
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