Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
und zogen weiter zwischen fruchtbaren Äckern, Weinfeldern und Pfirsichbäumen durch die flache Landschaft. Nur noch ein Tag des Jahres 1654 lag vor ihnen, als sie die Stadt Mestre an der Adria erreichten. Hier bestiegen sie eine Gondel, die sie das letzte Stück des Weges nach Venedig brachte.
«Italien» war mehr noch als «Deutschland» nur ein geographischer Begriff. Während diejenigen, die in den Grenzen des Heiligen Römischen Reiches lebten, sich zumindest auf die zweifelhafte Fiktion einer politischen Einheit berufen konnten, war Italien ein Flickenteppich von selbständigen Staaten, die in den meisten Fällen ihren Ursprung ins frühe Mittelalter zurückführten: der päpstliche Kirchenstaat, die Toscana, das Herzogtum Savoyen, die beiden Königreiche Neapel und Sizilien – beide unter direkter spanischer Oberhoheit –, Modena, Mantua, Mailand, Parma, Lucca, die freien Republiken Genua und Venedig. Die Halbinsel war dicht bevölkert und galt von alters her als eine von Europas reichsten und dynamischsten Regionen. Aber es war etwas geschehen. Eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise hatte das Land getroffen, eine Krise, die mehr war als nur ein vorübergehender konjunktureller Durchhänger. Die Landwirtschaft ging zurück: sinkende Preise und die Auszehrung des Bodens bewirkten, dass das bewirtschaftete Areal sich verringerte, und in einigen Regionen wie Sizilien begannen einfachere und primitivere Bebauungsmethoden sich unter den Bauern auszubreiten. Lange Zeit waren die Italiener Europas hervorragendste Seefahrer, reichste Kaufleute, beste Bankiers und wagemutigste Fabrikanten gewesen. Nirgendwo auf dem Kontinent waren Städte von vergleichbarer Blüte zu sehen. Doch seit dem Spätmittelalter hatten die Handelswege sich wie ein Strom neue, unerwartete Wege gebahnt, und die italienischen Städte sahen den Strom, der ihr Leben gewesen war, langsam versiegen und sich stattdessen zu den neuen, wachsenden Handelszentren im Nordwesten verlagern. Die großen Manufakturen auf der Halbinsel, die früher halb Europa mit Wolle, Barchent, Seide und Alaun versorgt hatten, wurden von der Konkurrenz verdrängt und brachen nach und nach zusammen. Eine wahre Entindustrialisierung hatte in Italien eingesetzt. In Venedig waren am Beginn des 17 . Jahrhunderts 29 000 Ballen Wollstoff pro Jahr produziert worden, gegen Ende des Jahrhunderts war die Produktion auf 2000 gesunken. In Mailand gab es in den ersten Jahren des Jahrhunderts zwischen 60 und 70 große Textilkonzerne, 1682 gab es nur noch fünf. Im gleichen Zeitraum sank die Verschiffungsmenge im Hafen von Genua von neun Millionen auf drei Millionen Tonnen pro Jahr. Das Bevölkerungswachstum kam zum Stillstand, und manche Gebiete verzeichneten einen deutlichen Bevölkerungsrückgang. Die Armen wurden immer zahlreicher, überall sah man Bettler, und die Kriminalität stieg rapide an.
Die schweren Probleme hatten zweierlei Ursachen.
Zum einen passten die Kaufleute und Manufakturen Italiens sich allzu langsam den veränderten ökonomischen Bedingungen an, die um die Wende zum 17 . Jahrhundert in Europa maßgebend geworden waren. Sie waren in der Vergangenheit ganz einfach zu sehr vom Glück begünstigt gewesen; als die Verhältnisse sich wandelten, weigerten sie sich, das einst so erfolgreiche Rezept, das die Entwicklung jedoch inzwischen zu einer Formel für reine Stagnation gemacht hatte, zu ändern. Früher hatten sie ihre exklusiven Waren zu hohen Preisen verkaufen können, doch nun wurden sie von effektiveren Betrieben in Holland, Frankreich und England überflügelt, die die alten Geheimnisse der Italiener gelernt hatten und nun Tuch anbieten konnten, das billiger als das italienische und mindestens genauso gut war. Nicht nur die italienischen Unternehmer waren durch ihre früheren Triumphe übersättigt, träge und konservativ geworden, auch die italienischen Zünfte waren mächtig und konnten deshalb alle großen Umgestaltungen in Form und Einrichtung der Produktion blockieren. Alle sehnten sich zurück nach dem Goldenen Zeitalter, aber gerade ihre starke Sehnsucht nach der Vergangenheit bewirkte auch, dass die Hoffnung auf ihre Wiederbelebung schrumpfte.
Zum anderen hatte auch Italien schwer unter dem Dreißigjährigen Krieg gelitten. Die Länder der Apenninenhalbinsel waren von Kampfhandlungen praktisch unberührt geblieben, aber dennoch auf indirekte Weise betroffen, weil die meisten zum Imperium der spanischen Habsburger gerechnet wurden. Die Regierenden in
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