Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
mehr Wert auf das schöne Dekor, Erik dagegen ging es mehr um den architektonischen Gesamteindruck.
Aber Venedig bedeutete für Erik nicht nur Studium. Trotz seiner Energie und seines Ehrgeizes war er nicht so monoman veranlagt, dass er sich nicht in das bunte Treiben der schönen Großstadt hineinziehen ließ. Mit den beiden jungen Freiherren im Schlepptau streifte er durch die Stadt und «besah dort alles, was selten und remarkabel zu sehen war», und das war nicht wenig. Als später Karl Gustavs Bruder Herzog Adolf Johan in der Stadt auftauchte, konnten sie in seiner Gesellschaft Orte und Dinge besichtigen, die dem durchschnittlichen Touristen nicht zugänglich waren, wie die Schatzkammer, die Münzanstalt und das gewaltige Arsenal (das Letztere war von einer langen, turmbekrönten Mauer umgeben, mit Löwen geschmückt – sowohl solchen mit Flügeln als auch ohne – und enthielt einem Gerücht zufolge Waffen für mehr als 300 000 Mann).
Vieles von der alten volkstümlichen Festfreude, die von der Glaubensstrenge der Reformation und der Gegenreformation gedämpft worden war, konnte in dem offenen und toleranten Venedig noch weiterleben. Der Kalender der Republik war denn auch gespickt mit jährlich wiederkehrenden Feiertagen und Festen. Vor Ostern 1655 nahmen Erik und seine Freunde an dem berühmten Karneval teil. Karnevalsfeste waren seit dem Mittelalter ein wichtiger Bestandteil der Volkskultur in Europa; in dem chaotischen Karnevalsgewimmel von Prozessionen, Umzügen, Unanständigkeiten, Schauspielen, Trunkenheit, Scheinbegräbnissen und Maskeraden bekam das einfache Volk eine Möglichkeit, eine Verwirklichung der alten Utopie von einem Leben zumindest zu ahnen, wo Essen, Trinken und Liebe im Überfluss vorhanden sind, wo alte Autoritäten verhöhnt, neue lächerlich gemacht werden, wo alle gleich sind und die Welt für einige Tage auf den Kopf gestellt ist – wie der Literaturhistoriker Bachtin schreibt, «eine vorübergehende Befreiung von der vorherrschenden Wahrheit und der herrschenden Ordnung, eine Aufhebung aller hierarchischen Verhältnisse, Privilegien, Normen und Verbote». In der zweiten Jahrhunderthälfte sollte jedoch die moderne Zentralmacht einen Teil des volkstümlichen Festes verstaatlichen und in organisierte und gut kontrollierte Paraden umwandeln, während gleichzeitig der aufkommende Individualismus einen anderen Teil privatisieren, ihn als Fest in die eigenen vier Wände verlegen und zu einer Angelegenheit ausschließlich für Familie und Freunde machen sollte. Um die Mitte des 17 . Jahrhunderts waren viele uralte Karnevalsbräuche noch lebendig, und den größten Karneval in Europa gab es gerade in Venedig. Ein anderes wichtiges Fest, das Erik ebenfalls miterlebte, fand am Himmelfahrtstag statt. Dann musste das nominelle Oberhaupt der Republik, der Doge, seinen zinnengeschmückten rosaweißen Sarkophag von Palast verlassen, die große Piazza überqueren und in einem Gewimmel von Menschen, Tauben, kleinen Booten und Gondeln an Bord seines vergoldeten Schiffs
Bucentoro
klettern, um von diesem bauchigen und nautisch vollständig unwahrscheinlichen Gebilde herab einen Ring in die Wogen zu werfen, womit er, wie Erik im Tagebuch schreibt, «das Meer … zu seiner Ehefrau nimmt». Sie besuchten auch eine neue Art musikalischen Theaters, das
dramma per musica
oder – seit ein paar Jahren –
opera
genannt wurde. Gerade was die Musik anbelangt, war Venedig führend. Was wir heute als die natürliche Form der Musikdarbietung kennen, also professionelle Aufführungen nichtkirchlicher Musik vor einem zahlenden Publikum, das sich aus der Allgemeinheit rekrutierte, entstand praktisch an diesem Ort und zu dieser Zeit. Das allererste Opernhaus war 1637 in Venedig eröffnet worden, und Komponisten wie Monteverdi und Gabrieli hatten mit ihren Konzerten, Madrigalen und Opern neue Wege gebahnt. Die neue Sitte, Logen an verschiedene Adelsfamilien zu vermieten, trug zur Schaffung eines zugleich festen und kundigen Publikums bei. Es war nämlich üblich, dass Familien, die eine Loge hatten, so gut wie jeden Tag dorthin gingen und speisten oder Karten spielten, während sie immer wieder die gleiche Vorstellung sahen. Das Volk, das sich mit den einfacheren Plätzen vor der Bühne begnügen musste, lernte bald, es mit den Logeninhabern in Bezug auf Geschmack und Urteilsvermögen aufzunehmen. Die Oper bekam rasch einen zentralen Platz im Kultur-und Vergnügungsleben der Stadt, und neue Vorstellungen waren
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