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Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges

Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges

Titel: Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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prosperierenden calvinistischen Asketismus, stellt man sich vor. In den Straßen herrschte oft lebhaftes Treiben. Neben Deutschen der verschiedenen Stände und Berufe sah man Italiener und Portugiesen, Engländer, niederländische Brabanter und sephardische Juden – die nach ihrer Vertreibung aus Spanien, Sizilien und Neapel nach Hamburg gekommen waren und in der Stadt eine eigene Synagoge hatten –, Kriegsflüchtlinge und, natürlich, Scharen von Straßenverkäufern, die mit ihren Waren auf dem Kopf umherzogen und ausriefen, was sie zu verkaufen hatten, «Milch, Fisch, Pastinaken, Krebse».
    In allen größeren Städten wimmelte es von Straßenverkäufern, die alles von Lilien, Stroh, Holzkohle, Nüssen, Pilzen und Heringen bis zu Öl, Besen, Holzschuhen, Körben, Nadeln, Bällen, Branntwein, Hüten und gebrauchten Kleidern verkauften oder ihre Dienste als Scherenschleifer oder Zahnzieher anboten. Wie die Kutschen oder die Marktstände waren sie ein natürlicher Bestandteil des Straßenbildes, während sie gleichzeitig die Geräuschkulisse nahezu dominierten.
    Es war still im alten Europa, sehr still, zumindest auf dem Land. Es gab keine dröhnenden Maschinen, und die Energiequellen, die es gab – die Muskelkraft, der Wind und das Wasser, repräsentiert vom Ochsengespann, dem Segelschiff und der Wassermühle –, machten wenig oder keinen Lärm. (Die Popularität von Feuerwerken und Salutschüssen beruhte zum Teil wahrscheinlich darauf, dass sie, außer dass sie eine Freude für das Auge waren, so viel Lärm machten. Die richtig lauten Geräusche waren eine Rarität, die man bestaunte.) Wenn man Landschaftsbilder aus dieser Zeit betrachtet – von den Holländern Jakob von Ruisdael, Esaias van de Velde, Paulus Potter, Philips de Koninck oder dem genialen Meindert Hobbema –, kann man diese Ruhe erblicken, ja fast das Schweigen sehen; man hört den Wind in den Bäumen, vielleicht hängt ein Heulen in der Luft, vielleicht das Echo von Axthieben in der Ferne, ansonsten Schweigen. Dieses Schweigen wurde jedoch gebrochen, wenn größere Gruppen von Menschen zusammenkamen. Besonders wenn wir uns die Geräusche in den großen Städten vorstellen wollen, müssen wir uns allen betäubenden, hässlichen Motorenlärm wegdenken, der uns heute erschlägt, und uns an seiner Stelle eine grelle Kakophonie von Menschenstimmen denken. Die laute Rede spielte eine ganz große Rolle, einfach deshalb, weil es um die Lesefähigkeit ganz allgemein schlecht bestellt war, weswegen jede Reklame, alle Neuigkeiten, alle Verordnungen, Dekrete und neuen Gesetze in mündlicher und lauter Form verbreitet wurden. Alles wurde ausgerufen. Und in diesen Rufen begegnet uns ein Bruchstück der Sprache der Märkte, der Straßen, der Wirtshäuser in dem alten Europa. Hier der Streit und das Geschrei der Marktfrauen und Fischweiber zwischen Abfallgeruch und Schmutzwasser: «Hast du keine Scham im Leib? Du altes Aas! Geprügelte Hündin! Du freches Stück! Du häßliche Visage, du bist ja voll bis zu den Ohren!» Oder die Rufe der Straßenverkäufer, Erwachsenenstimmen, Kinderstimmen, wo jede spezielle Ware nicht nur mit Hilfe besonderer Wörter und Phrasen angepriesen wurde, sondern auch mit einer eigenen Melodie und Intonation: «Hier gibt’s herrliche warme Kuchen! Der Schornsteinfeger kommt! Mein Vater schneidet schmerzlos Hühneraugen! Artischocken, große Artischocken! Wer braucht Brennholz? Altes Eisen zu verkaufen! Immer noch Basilikum in Krügen! Milch! Feine Seife zu verkaufen! Lebende Karpfen! Brennholz, Brennholz! Wir reparieren Bettwärmer und Feuerbecken! Wer braucht Sand?» Später, wenn die Dämmerung hereingebrochen war und das massive Dunkel die Höker von der Straße vertrieben hatte, hörte man deutlich all die Geräusche, die während des Tages zwischen den Rufen und Schreien nur hier und da durchgedrungen waren: das Bellen der allerorten vorhandenen Hunde, das hohle Klappern von Pferdehufen, das Rasseln beschlagener Wagen, das Knirschen von Karren, Kutschen und Karretten und das rhythmische Klirren von Degenscheiden, wenn sie über das Straßenpflaster schleiften. Und über diesem allen schwebte ein anderes Geräusch, das ständig da und vollkommen unausweichlich war: der volle Klang von Kirchenglocken, die die Tageszeit verkündeten, zum Gottesdienst riefen, von Freude sangen, vor Unfrieden warnten oder bei Feuer Alarm läuteten. Die Menschen kannten die Glocken gut, beinah intim, gaben ihnen Namen, wussten, was unterschiedliches

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