Verwüstung
einschüchtern, wie eine militärische Strategie, aber das war es, was sie jetzt empfand. Schock, Furcht und vor allem Dankbarkeit, dass Tia ihr geholfen hatte und dass sie so leicht zu lesen gewesen war. Ihr ganzes Leben war an der Oberfläche ihres Bewusstseins gewesen, wie Sahne auf der Milch, und wenn Mira gewollt hätte, hätte sie alles abschöpfen können. Aber sie hatte genug von Tias Leben gesehen, um zu wissen, dass sie nicht mehr sehen wollte. Sie konnte es nicht riskieren, noch mehr Türen zwischen sich und den dreien zu öffnen.
Mira sprang vom Bett und huschte in den begehbaren Schrank wie ein panisches Insekt, das dem letzten endgültigen Schlag eines menschlichen Schuhs auswich. Sie drückte ihr Gesicht in einen Haufen alte Sweatshirts und Pullover, die ihr Schluchzen dämpften. Sie fühle sich beschmutzt, verletzt durch Franklins Berührungen, sein Lecken, Streicheln, Flüstern. Die Gier nach Rache überkam sie.
Dieses Gefühl empfand sie noch schrecklicher als alles, was er ihr angetan hatte. Rache würde nichts daran ändern, was geschehen war, und könnte ihn mit ihr auf immer in karmischer Weise verbinden. Eines war sicher: Sie würde nie wieder einen Tatort lesen. Nicht für Sheppard, nicht für Dillard, für niemanden.
Mira tastete in der Dunkelheit des Schranks umher und fand ihr Handy und das Ladegerät, die sie vorhin auf der alten Kommode abgelegt hatte, die an der Seite stand. In diesem Kapitel ihres Lebens enthielt die Kommode Bettwäsche; vor dreißig Jahren hatte sich die Bekleidung eines Erwachsenen darin befunden. Vor Kurzem hatte sie die Kommode als Trittleiter benutzt, um durch die Dachluke zu reichen und Kisten wegzustellen. Anders als in der Garage gab es im Schlafzimmer keine Bodentreppe zum Dach, weswegen sie hier nur kleinere Sachen wie Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke verstauten.
Ihre Finger tasteten über die Handytastatur. Kein Empfang. Scheiße.
Könnte sie im Bad ein Netz bekommen? Vielleicht. Aber erst einmal musste sie sich etwas mehr Zeit verschaffen. Sie langte in die Kommode und zog eine Strumpfhose heraus. Sie knotete ein Ende an den Knauf der Schranktür, schloss die Schlafzimmertür, verriegelte sie und knotete das andere Ende der Strumpfhose an den Türknauf der Schlafzimmertür, dann schob sie einen Stuhl vor die Tür. Nichts von alldem würde Franklin aufhalten. Mit dem Fingernagel konnte man das Schloss öffnen, den Stuhl konnte man aus dem Weg stoßen. Aber selbst fünfzehn oder zwanzig Sekunden könnten entscheidend für sie sein.
Sie riss einen Rucksack von einem der oberen Borde und öffnete die kleine Plastikkühlbox, die sie vorhin hierhergebracht hatte. Sie nahm zwei Flaschen Wasser, eine Tüte Erdnüsse und eine Tüte Minikarotten heraus und packte sie in den Rucksack. Dazu ein T-Shirt, eine kurze Hose, Laufschuhe, eine Taschenlampe und alles andere, was sie brauchen könnte.
Mira lief ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab. Der Regen hämmerte auf das Oberlicht über der Dusche und sorgte für ein donnerndes Echo, das in ihrem Schädel widerhallte. Sie steckte das Ladegerät in die Steckdose, das andere Ende in ihr Handy und hielt das Telefon vor das Fenster auf der Suche nach einem Netz. Sie fand eines, konnte es aber nur halten, wenn sie sich nicht rührte. Sie wählte eilig Annies Handynummer. Die Nachricht Kein Empfang erschien.
Mira versuchte, sie über Funk mit dem Handy zu erreichen. »Annie? Bist du da? Over.«
Die leise, ängstliche Stimme ihrer Tochter war zu hören. »Mom? Oh, Mom. Ich habe Schüsse gehört. Ich dachte, du wärst … wärst …«
Tot: Das Wort, das Annie auszusprechen nicht über sich bringen konnte.
»Mir geht es gut, Schätzchen. Du machst das super, dass du die ganze Zeit versteckt bleibst. Hör mal, ich komme zu dir. Ich gehe durch das Fenster im Bad. Over.«
»Mom, riskier das nicht. Es ist zu gefährlich. Over.«
»Die Vorderseite des Hauses zeigt weg vom Sturm. Ich schaffe das. Du musst die Außentür der Garage aufschließen, damit ich reinkomme. Stell die Schaufel neben die Tür. Wenn du aufgeschlossen hast, sollten Ricki und du euch hinter den Metallregalen neben dem Sicherungskasten verstecken.«
»Es ist zu weit von deinem Badezimmerfenster zur anderen Seite des Hauses. Es wäre besser, wenn ich die Garagentür so weit öffne, dass du darunter durchkriechen kannst. Das mache ich per Hand. Sie werden es im Haus nicht hören.«
»Ich denke, dafür ist der Wind zu stark. Aber wenn ich es mir
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