Verzaubert
erst wach geworden … Warte!«, rief ich, als er weiter auf die Tür zumarschierte. »Wie viel Uhr ist es? Haben wir nicht schon geschlossen?«
Hieronymus öffnete die Tür, ging geradewegs an der Person auf der Schwelle vorbei und lief eiligen Schrittes davon. Ich rannte zur Tür, steckte den Kopf hinaus und rief: »Wo willst du hin? Was hast du heute herausgefunden?« Er tat so, als würde er mich nicht hören, und ich hatte nicht vor, ihm nachzulaufen. »Dann bin ich ihn wenigstens los«, murmelte ich.
»Wie bitte?«, fragte der Fremde an der Tür.
»Oh, entschuldigen Sie. Ich fürchte, wir haben bereits geschlossen.«
»Ich bin auf der Suche nach Dr. Zadok.« Der Mann war groß, schlank, trug einen saloppen Anzug ohne Krawatte und war glatt rasiert. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig. Er schien indischer Herkunft zu sein und sprach mit einem britischen Akzent.
»Der ist gerade nicht da. Aber wenn Sie morgen während der Öffnungszeiten wiederkommen …«
»Ich bin nicht wegen der Bücher hier. Dürfte ich auf ihn warten?«
Der Mann machte einen seriösen Eindruck, also entschied ich, ihn hereinzulassen. Nur um auf der sicheren Seite zu sein, fügte ich hinzu: »Max ist hierher unterwegs. Er muss jede Minute eintreffen.«
»Es geht ihm also gut?«, fragte der Fremde beflissen.
Ich schaltete das Licht ein und sah den Mann überrascht an. »Ja.« Dann führte ich ihn zu dem Tisch. »Haben Sie Grund zu der Annahme, dass dem nicht so ist?«
»Er hat keine meiner letzten E-Mails beantwortet.«
»Das liegt vermutlich daran, dass sein Computer den Geist aufgegeben hat«, erklärte ich.
Der Fremde starrte mich einen Moment lang an. Dann schloss er die Augen und seine Lippen bewegten sich tonlos. Es sah aus, als hätte er Mühe, sich zu beherrschen. »Ah«, sagte er schließlich und öffnete die Augen. »Nun, das erklärt einiges – und vor allem hätte ich mir diese Reise sparen können.«
»Warum haben Sie nicht angerufen?«
»Das habe ich, ein paarmal sogar. Aber es ging nie jemand ans Telefon.«
»Oh.« Mir war bereits aufgefallen, dass Max keinen Anrufbeantworter besaß. »Er war in letzter Zeit viel unterwegs, Mr. …«
»Entschuldigen Sie bitte!«, rief der Fremde. »Sie müssen mir diesen Mangel an guten Manieren nachsehen. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Lysander Singh.«
»Esther Diamond.« Wir schüttelten uns die Hände und setzten uns. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Wasser?« Ich war nicht sicher, was wir sonst noch zur Verfügung hatten, aber ganz sicher würde ich nicht in dem großen Schrank nach
Aqua Vitae
suchen.
»Im Moment nichts, vielen Dank.«
Er betrachtete mein Gesicht und schien zu überlegen, ob er etwas sagen sollte oder nicht. Verlegen rieb ich mir über die Wange, da mir klarwurde, dass sie wahrscheinlich über und über mit Druckerschwärze beschmiert war. Entschuldigend sagte ich: »Wir haben in letzter Zeit so viel zu tun, dass ich während der Arbeit eingeschlafen bin.«
Er zog die Brauen hoch. »Sind Sie hier angestellt?«
»Nein, ich bin … eine Freundin von Max.«
»Eine, der er sogar die Buchhandlung anvertraut, wie ich sehe.« Sein Ton war höflich, aber eine Spur missbilligend.
»Ja.«
»Darf ich fragen, woher Max gerade zurückkommt?«
»Vom Polizeirevier.« Ich war noch immer angeschlagen, sonst hätte ich vermutlich nicht so unumwunden geantwortet.
»Ist ein Unglück geschehen?«, fragte Lysander erschrocken.
»Könnte man so sagen.«
»Wurde hier eingebrochen?«
»Nein … Ich … Ach, das ist kompliziert.«
»Verstehe.« Nach einer peinlichen Pause fragte er: »Ist Max’ Assistent hier? Vielleicht sollte ich mit ihm reden.«
»Er ging, als Sie kamen«, brummte ich. »Ist abgehauen. Ohne Vorwarnung, Entschuldigung oder Erklärung.«
»
Das
war Hieronymus?«
»Sie kennen Hieronymus?«, fragte ich überrascht.
»Nun ja, wir sind uns nie persönlich begegnet …« Er ließ den Blick über die auf dem Tisch gestapelten Bücher wandern und dann hinüber zum Whiteboard mit meinen verschiedenfarbigen Notizen. Nach einem kurzen Moment sagte er leise und stirnrunzelnd: »Vier Menschen sind auf mysteriöse Weise verschwunden?«
Ich sog hörbar die Luft ein und sprang auf. »
Wer
sind Sie?«
»Wie ich schon sagte, Lysan–«
»Woher kommen Sie?«, fragte ich und wich ängstlich zurück. Eine dunkle Ahnung beschlich mich: War
er
etwa unsere Nemesis?
»Altoona«, antwortete er. »Junge Frau, es gibt keinen
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