Verzaubert
Entschlossenheit zu. »Wir finden … Wie heißt sie eigentlich?«
»Alice.«
»Alice«, wiederholte ich. »Können wir eine Beschreibung von ihr bekommen?«
»Von Alice? Nun ja, sie ist neun Jahre alt«, sagte Goudini.
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Ein weißer bengalischer Tiger. Durchschnittliche Größe für ein ausgewachsenes weibliches Exemplar. Über der Nase hat sie eine Narbe, weil sie sich als Junges in einem Dornbusch verfangen hat.«
»Oh«, sagte ich. »Alice ist der Tiger. Klar. Und wie heißt die junge Dame?«
»Hm?«
»Die Frau, die verschwunden ist.«
»Oh. Sarah Campbell.«
Ich erkundigte mich nach Sarahs Stimmung und Verhalten am Abend zuvor, aber Goudini unterbrach mich: »Glauben Sie wirklich, dass Sie mir meinen Tiger zurückbringen können?«
»Das hoffen wir«, sagte Max.
»Und Ihre hübsche Assistentin ebenfalls«, fügte ich spitz hinzu.
»Hm? Ach so, richtig. Das wäre gut«, antwortete Goudini. »Aber Alice ist der unersetzliche Teil bei diesem Kunststück. Ich würde alles tun – und ich meine
alles
–, um meinen Tiger zurückzubekommen!«
»Verstehe«, bemerkte ich knapp.
»Tiger kosten nicht nur ein Vermögen«, erklärte Goudini, als fürchte er, ich würde ihn für knauserig halten, »es ist auch unglaublich schwierig, sie abzurichten.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Garry«, versicherte ich.
»Ich besitze zwei Junge von Alice, die mittlerweile erwachsen sind«, fuhr er fort. »Aber sie haben nur eine dekorative Funktion, sie sitzen rechts und links auf der Bühne in ihren Käfigen und sehen gefährlich und schön aus. Sie kommen nicht gerade nach ihrer Mutter, für den Zaubertrick kann ich sie keinesfalls einsetzen.«
»Aha.«
»Ich muss Alice wiederbekommen!«
»Ich verstehe«, sagte ich und stand auf. »Max, sollen wir uns den Käfig ansehen?«
»Ja, aber ich denke, wir sollten Mr. Goudini erst noch einige Fragen stellen.«
Das war zweifellos ein kluger Vorschlag, allerdings bestand die Möglichkeit, dass ich Goudini verprügelte, wenn ich noch mehr Zeit mit ihm verbrachte. Ich fragte mich, ob er überhaupt mit uns über das Verschwinden gesprochen hätte, wenn es nur Sarah Campbell betroffen hätte. Aber wir brauchten Goudinis Mitarbeit. Um zu vermeiden, dass wir ihn uns zum Feind machten (indem ich mich wütend auf ihn stürzte), schlug ich vor, dass ich sein Team interviewte, während Max weiter mit ihm selbst sprach. Max hielt das für eine gute Idee, also verbrachte ich den Rest des Nachmittags damit, Goudinis Mitarbeiter aufzuspüren und zu befragen. Alle wollten Alice wiederhaben – und ja, Sarah natürlich auch.
Als wir wieder in der Buchhandlung waren, schrieb ich die Namen der letzten beiden Opfer auf die Tafel:
Alice, die Tigerdame,
und
Sarah Campbell.
»Der menschliche Körper«, sagte Lysander zu Satsy, »besteht, wie so ziemlich alles im Universum, aus mehr Hohlraum als fester Masse. Von daher ist es eigentlich nicht überraschend, dass etwas verschwinden kann, sondern vielmehr, dass dies nicht viel häufiger geschieht.«
»Eine clevere Schlussfolgerung«, stellte Satsy fest.
»Nein, lediglich das Ergebnis jahrelangen Studiums.«
Ich hörte auf, das Whiteboard anzustarren, und ging zu Max’ »Erfrischungsstand«, um mir irgendetwas zu genehmigen, das mich ein wenig aufbauen würde. Dort befand sich auch ein Mini-Kühlschrank, in dem der alte Zauberer Portionsdöschen mit Milch aufbewahrte, die er seinen Kunden zum Kaffee oder Tee reichte. Ich hatte die Reste des thailändischen Essens vom Vorabend hier hineingestellt. Doch als ich die Tür öffnete, musste ich feststellen, dass meine geplante Mahlzeit bereits verschwunden war. »Natürlich«, murmelte ich. Die Überbleibsel des chinesischen Essens von Donnerstagabend waren ebenfalls weg. »Wie die Geier«, brummte ich.
Da ich müde war, entschied ich, nicht noch einmal hinauszugehen, um etwas Essbares zu besorgen, sondern mich hungrig und muffelig wieder zu den anderen an den Tisch zu setzen. Ich schnappte mir einen Band von John Aubreys
Gesammelte Werke
und schlug das Kapitel über »Umwandlung durch unsichtbare Mächte« auf. Nach wenigen Minuten bekam ich Kopfschmerzen. Englische Prosa des 19 . Jahrhunderts ist nicht gerade leichte Kost.
Satsy durchforstete Colin Parsons’
Begegnungen mit dem Unbekannten.
Unter dem Tisch lag neben seinen Füßen ein ganzer Stapel Bücher. Ich hatte angeboten, ihm zu helfen, aber er hatte abgelehnt. Lysander arbeitete sich durch ein
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