Verzauberte Herzen
Stapel
Bücher entdeckte. Alte Bücher mit zerfledderten Einbänden und brüchig
gewordener Bindung, aber das machte die Worte, die die modrigen Seiten
bedeckten, für Gwendolyn nur umro wertvoller. Da lag der zweite Band von
Jonathan Swifts Gesammelten Werken, eine Erstausgabe von Popes Der
Lockenraub – Ein komisches Heldengedicht und Daniel Defoes Roxana. Aber
keines der Bücher faszinierte sie so wie Colin Maclaurins Abhandlung über
das mathematische Problem der Fluxion, das aussah, als sei es nie zuvor
aufgeschlagen worden.
Gwendolyn
setzte sich auf den Boden und nahm die Bücher auf den Schoß. Sie hätte den
ganzen Tag so sitzen bleiben können, nur damit beschäftigt, genüsslich
herumzublättern, wäre ihr nicht in der Ecke gegenüber ein Farbfleck
aufgefallen. Sie ging wie von unsichtbarer Hand gezogen darauf zu,
und die nebligen Schwaden ihres Traums schienen mit jedem Schritt dichter zu
werden.
Ihr war
noch gar nicht richtig bewusst, dass sie überhaupt aufgestanden war, da fand
sie sich schon wie eine demütige Bittstellerin vor einem geheiligten Altar auf
Knien wieder. Gwendolyn konnte der Versuchung, mit beiden Armen tief in die
Truhe zu greifen, nicht widerstehen. Sie förderte etwas aus rosa-weiß
gestreiftem Popelin zu Tage und einen bestickten Unterrock mit Rüschensaum.
Als Nächstes kam ein weißes Musselinkleid mit kirschroten Bändern, dann folgten
Unmengen plissierter blauer Taft. Sie hielt sich das elegante Abendkleid schon
vor die lakenumschlungene Brust, da erwachte sie plötzlich aus ihrem
Dämmerzustand.
Sie ließ
das Kleid zu Boden fallen. Kein Schneider würde solch schöne Sachen für eine
ausladende Frau wie sie nähen. So etwas war wie gemacht für gertenschlanke
Schönheiten wie Glynnis und Nessa. Gwendolyn lächelte wehmütig, als sie sich
Kittys Freudenschreie angesichts all dieser festlichen Gewänder vorstellte.
Sie hätte
die Truhe einfach wieder zuklappen sollen, aber sie konnte nicht umhin, ihre
Hände wenigstens in den flauschigen, weichen Muff aus Zobelfell zu stecken.
Für Gwendolyns Mutter waren solche Roben in jungen Jahren alltäglich gewesen.
Doch Leah Wilder hatte es nie bereut, all diesen Luxus hinter sich gelassen zu
haben, als sie den ungestümen jungen Haushofmeister eines Clansherrn aus dem
Hochland geheiratet hatte und nur die treue, junge Küchenmagd namens Izzy mit
sich genommen hatte. Jedes Mal, wenn Papa ihr versprochen hatte, dass er ihr
eines Tages wieder zu Reichtum verhelfen würde, hatte sie ihn nur umarmt und
auf die Wange geküsst. Seine Liebe und ihre wundervollen kleinen Töchter seien
das einzige Vermögen, an dem ihr gelegen sei, hatte sie ihm dann erklärt.
Gwendolyn
zwinkerte schnell den Tränenschleier fort. Sie fragte sich, wie der Drache wohl
zu diesen schönen Sachen gekommen war und strich über einen samtenen Kragen.
Wie viele andere Dörfer hatte er schon ausgeraubt, bevor sein gieriger Blick
auf Ballybliss gefallen war? Wollte er sie mit diesem ganzen Putz verhöhnen?
Sie wollte
die Truhe gerade schließen, da fiel ihr Blick auf den weißen Unterrock.
Gwendolyn
blickte sich misstrauisch um, als wolle sie sichergehen, nicht von einem Paar
lüsterner Augen beobachtet zu werden. Dann knotete sie ihr Laken auf, stieg in
den Unterrock und zog ihn über die Hüften. Er passte, als sei er
maßgeschneidert, und sie musste ihn sogar mit einem kräftigen Ruck an den
seidenen Bändern festzurren, damit er nicht hinunterrutschte. Dann besah sie
sich ein blaues Seidenmieder, probierte es aber nicht an, weil sie für die
komplizierte Verschnürung wohl eine Zofe brauchen würde.
Sie griff
wieder zu dem Abendkleid. Gwendolyn wollte auf keinen Fall die Nähte des
wundervollen Gewands sprengen oder den Taft ausdehnen. Sie hielt so gut es
ging die Luft an und zog sich das Kleid über den Kopf. Der Taft umgab sie wie
eine schimmernde Wolke, und sie brauchte nur noch ihre Arme in die engen Ärmel
zu stecken, die am Ellenbogen in weit ausgestellte, plissierte Glocken
übergingen.
Gwendolyn
wunderte sich über die tadellose Passform des Kleides. Auch ohne ein
Schnürkorsett darunter war ihr das Kleid weder zu eng noch dehnten sich die
Nähte. Sie drehte sich im Kreis und fühlte sich so anmutig und leicht wie der
Taft, der um sie herumwirbelte.
Die
kirschroten Rosen am Oberteil des weißen Musselinkleids schienen ihr
zuzuwinken, und im Handumdrehen hatte Gwendolyn das Taftkleid aus- und das
Musselinkleid angezogen. Sie probierte ein Kleid nach dem
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