Verzaubertes Verlangen
oder mehreren Sinnen, und keine zwei Menschen benutzen ihre Sinne in der gleichen Weise oder im gleichen Maße. Wir alle wissen, dass zwei Menschen dasselbe Bild anschauen oder dieselbe Speise essen oder dieselbe Blume riechen können und beide das Erlebnis gänzlich anders beschreiben.«
»Ich bin anders.«
»Wir sind alle auf die eine oder andere Weise anders. Was spricht gegen die Annahme, dass einige dieser paranormalen Sinne nichts weiter als besser entwickelte Versionen der normalen Sinne sind, die wir bereits besitzen?«
Sie verstand es einfach nicht, dachte er.
»Sagen Sie mir, Venetia, wenn Sie Ihre paranormalen Sinne
einsetzen, zahlen Sie dann einen Preis dafür?«, fragte er heiser.
Sie zögerte. »Ich habe es noch nie in dieser Weise betrachtet, aber, ja, ich denke schon.«
Das ließ ihn kurz stocken. »Was kostet es Sie?«
»Wenn ich mich auf die Aura einer Person konzentriere, sind all meine anderen Sinne geschwächt«, erklärte sie nachdenklich. »Die Welt um mich herum verliert alle Farbe. Es ist, als würde ich ein Fotonegativ anschauen. Wenn ich mich bewege, dann ist es so, als würde ich durch eine Landschaft wandeln, in der Licht und Schatten sich verkehrt haben. Es ist sehr verwirrend und macht einen orientierungslos.«
»Was ich erlebe, ist weit erschreckender.«
»Erzählen Sie mir, was Sie so an Ihren übersinnlichen Fähigkeiten beunruhigt«, sagte sie so gelassen, als würden sie sich über eine interessante naturkundliche Frage unterhalten.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, während er nach Worten rang. Noch nie hatte er mit jemand anderem als Caleb über all dies gesprochen, und selbst dann nur in Andeutungen und Umschreibungen, die es beiden erlaubten, viel ungesagt zu lassen.
»Wenn ich der frischen Fährte von Gewalt begegne, dann ist es, als hätte ich eine starke Droge genommen«, sagte er zögernd. »Ein brennendes Jagdfieber packt mich. Es ist, als würde ich dazu getrieben, zu jagen .«
»Sie sagen, dass es die Fährte der Gewalt sei, die diese Empfindungen weckt?«
Er nickte. »Ich kann meine übersinnliche Wahrnehmung benutzen, ohne den Jagdtrieb zu wecken, doch wenn ich auf die paranormale Fährte von jemandem stoße, der eine Gewalttat
begangen hat oder dies vorhat, dann droht ein dunkles Verlangen, mich zu verzehren. Wenn ich den Mann, der heute Nacht in Montroses Haus eingebrochen ist, erwischt hätte, hätte ich ihn ohne zu zögern umbringen können. Ich hätte ihn nur am Leben gelassen, um Antworten von ihm zu erhalten. Das darf nicht sein. Ich bin doch eigentlich ein moderner, zivilisierter Mensch.«
»Er war das Tier, nicht Sie. Für Sie ging es bei dem Kampf um Ihr Leben und das von Mr. Montrose. Kein Wunder, dass Ihre stärksten Emotionen geweckt wurden.«
»Es waren keine zivilisierten Emotionen. Sie übermannen mich wie ein dunkler Rausch. Was, wenn ich eines Tages außerstande bin, diesen Trieb in Zaum zu halten? Was, wenn ich mich in jemanden wie den Mann in Montroses Haus verwandle?«
»Sie haben nichts mit ihm gemein«, versicherte sie ihm mit überraschendem Nachdruck.
»Ich fürchte, da irren Sie sich«, erwiderte er ruhig. »Ich denke, er und ich haben wahrscheinlich eine ganze Menge gemein. Er konnte im Dunkeln ebenso gut sehen wie ich, und er bewegte sich mit großer Behändigkeit. Mehr noch, er wusste gut genug über meine Fähigkeiten Bescheid, um mir eine Falle zu stellen, indem er im Haus eine falsche Fährte legte, der ich gefolgt bin. Er und ich sind vom selben Schlag, Venetia.«
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Gabriel, sagen Sie, nachdem der Mann geflohen war, haben Sie da den Drang verspürt, jemand anderen zu töten?«
Die Frage ergab für ihn keinerlei Sinn. »Was?«
»Ihre Beute war Ihnen entkommen. Hatten Sie den Drang, ein anderes Opfer zu finden?«
Perplex schüttelte er den Kopf. »Die Jagd war vorbei.«
»Sie hatten keine Angst, Sie würden Mr. Montrose etwas antun, während Sie sich noch immer im Klammergriff dieses Jagdfiebers befanden, wie Sie es nannten?«
»Warum, zum Teufel, sollte ich Montrose etwas antun wollen?«
Sie schmunzelte. »Ein wildes Tier würde keinen Unterschied zwischen seinen Opfern machen, solange es unter dem Einfluss seiner niederen Instinkte steht. Das tut nur ein zivilisierter Mensch.«
»Aber ich komme mir nicht zivilisiert vor. Genau das versuche ich Ihnen ja zu erklären.«
»Soll ich Ihnen sagen, warum es Ihnen überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, Montrose oder
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