Verzaubertes Verlangen
seine Selbstbeherrschung heute Nacht bis an ihre Grenzen gefordert worden war. Wie auch immer, er hatte genug davon, gewisse Geheimnisse zu bewahren.
»Hol’s der Teufel«, platzte er heraus. »Sie sagen, Sie wollen die Wahrheit wissen? Dann werde ich Ihnen die Wahrheit sagen.«
Sie schwieg.
»Was Sie hier sehen, ist ein Aspekt meiner Natur, den ich mein gesamtes Erwachsenenleben über zu verbergen gesucht habe. Meistens gelingt es mir auch. Heute Nacht jedoch,
während des Kampfes in Montroses Haus, konnte das Tier aus seinem Käfig entkommen. Ich werde eine Weile brauchen, bis ich es wieder hinter Schloss und Riegel habe.«
»Das Tier? Wovon in aller Welt reden Sie?«
»Sagen Sie, Venetia, sind Sie mit den Theorien von Mr. Darwin vertraut?«
Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Der Nebel um ihn herum wurde kälter.
»In groben Zügen«, erwiderte sie schließlich zögernd. »Mein Vater war fasziniert von Mr. Darwins Konzept der natürlichen Auslese und hat oft davon gesprochen. Aber ich bin keine Wissenschaftlerin.«
»Ebenso wenig wie ich. Aber ich habe Darwins Werke und die Schriften anderer studiert, die seine Überlegungen zur Evolution, wie er es nennt, teilen. Die Theorie besitzt eine zwingende Logik und Schlichtheit.«
»Mein Vater sagte immer, das wäre das Markenzeichen aller großen Einsichten.«
»Die meisten Mitglieder der Arcane Society sind überzeugt, dass paranormale Fähigkeiten latente Sinne der Menschheit darstellen, die studiert, erforscht und in unserer Spezies gefördert werden sollten. In Fällen wie zum Beispiel Ihrer Fähigkeit, Auren zu sehen, haben sie möglicherweise sogar Recht. Was schadet es schon, wenn man Auren sehen kann?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auch ich besitze gewisse paranormale Fähigkeiten.«
Er wartete auf ihre Reaktion. Sie kam postwendend.
»Das hatte ich schon vermutet«, sagte sie. »Ich habe die Energie in Ihnen gespürt, als wir in Arcane House … zusammengekommen sind, und dann heute Abend in der
Kutsche. Ich habe mich daran erinnert, wie Sie damals diese beiden Männer im Wald ausmachen konnten. Und ich habe bemerkt, wie Sie vorhin in den Garten hinausgetreten sind. Es war, als könnten Sie im Dunkeln sehen.«
»Sie haben erahnt, dass ich übersinnliche Fähigkeiten besitze?«
»Ja. Es sind diese Fähigkeiten, die es Ihnen erlauben, sich durch die Nacht zu bewegen wie eine Wildkatze, oder nicht?«
Er stockte. »Der Ausdruck Wildkatze ist treffender, als Sie ahnen. Raubtier trifft es noch besser. Wenn ich meine paranormalen Sinne einsetze, werde ich zu einer gänzlich anderen Kreatur, Venetia.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was, wenn paranormale Sinne, wie ich sie besitze, keine neuen Eigenschaften sind, die von den Kräften der natürlichen Auslese hervorgebracht wurden, sondern das genaue Gegenteil?«
Sie kam einen Schritt näher. »Nein, Gabriel, so etwas dürfen Sie nicht sagen.«
»Was, wenn meine Fähigkeit, die paranormale Fährte von anderen unserer Art aufzuspüren, deren Denken von Gewalt bestimmt ist, tatsächlich eine entwicklungsgeschichtlich längst überholte, atavistische Begabung ist, die im Begriff steht, durch die erhabenen Kräfte der natürlichen Auslese ausgemerzt zu werden? Was, wenn ich ein Rückschritt zu etwas bin, das keinen Platz in diesem modernen Zeitalter hat? Was, wenn ich ein Ungeheuer bin ?«
»Hören Sie auf, sofort.« Sie trat ganz dicht an ihn heran. »Sie dürfen solchen Unsinn nicht sagen. Sie sind kein Ungeheuer. Sie sind ein Mensch. Wenn übersinnliche Fähigkeiten
einen zum Tier machen, dann darf auch ich mich nicht Mensch nennen. Glauben Sie das?«
»Nein .«
»Dann ist da ein Denkfehler in Ihrer Theorie, oder?«
»Sie verstehen ja nicht, was mit mir passiert, wenn ich meine paranormalen Sinne einsetze.«
»Gabriel, ich gebe zu, dass ich unsere übersinnlichen Fähigkeiten nicht voll und ganz verstehe. Aber was ist so merkwürdig daran? Ich verstehe ja auch nicht, wie es kommt, dass ich sehen, hören, schmecken oder riechen kann. Ich weiß nicht, warum oder wie ich träume, und ich habe keine Ahnung, was in meinem Gehirn vor sich geht, wenn ich ein Buch lese oder Musik höre. Ich habe keine Erklärung dafür, dass das Fotografieren mir solche Freude bereitet. Nicht nur das, selbst Wissenschaftler und Philosophen können mir keine Antworten darauf geben, zumindest noch nicht.«
»Ja, aber jeder kann die Dinge tun, die Sie beschreiben.«
»Das stimmt nicht. Manchen fehlt es an einem
Weitere Kostenlose Bücher