Verzaubertes Verlangen
einer geschmeidigen Bewegung aufsprang. Die herabsausende Klinge rauschte keine zwei Zentimenter von seinen Rippen entfernt durch die Luft.
Der danebengegangene Hieb brachte Stilwell einen Moment lang aus dem Gleichgewicht. Gabriel holte mit seinem Bein aus und trat mit voller Wucht gegen den Oberschenkel des anderen Mannes.
Stilwell schrie auf und sackte krachend auf seine Knie. Das Messer schlitterte über den Boden. Gabriel bückte sich und fing es auf.
Stilwell rutschte rücklings auf den zerbrochenen Glaskasten zu, streckte seine Hand aus und tastete hektisch nach der Waffe.
Venetia sah nicht einmal, wie die Schlange zuschlug. Es passierte zu schnell in den dunklen Schatten unter dem zerbrochenen Glaskasten. Es war Stilwells entsetzter Aufschrei und sein plötzliches heftiges Zurückzucken, woran sie erkannte, dass er gebissen worden war.
Er riss seine Hand unter dem Glaskasten hevor und schüttelte hektisch seine Finger.
Gabriel blieb argwöhnisch stehen, das Messer in der Hand.
»Nein, nein , das kann nicht sein«, hauchte Stilwell. Dann schaute er verzweifelt unter den Ständer. »Welche war es? Welche war es?«
Venetia sah, dass er in seinen krampfartigen Zuckungen der Schlange einen heftigen Schlag versetzt hatte. Etwas an der Art, wie sie sich wand, stimmte nicht.
Gabriel trat zu der Schlange. In einer Bewegung, die Venetia so schnell wie die einer zuschlagenden Viper erschien, stellte er seinen Stiefel auf die sich windende Kreatur und trennte ihr mit Stilwells Messer den Kopf vom Leib.
Schockierte Stille erfüllte das Zimmer. Stilwell setzte sich auf und hielt seine Hand umklammert. Er starrte Gabriel mit aschfahlem Gesicht an.
»Ich bin tot«, erklärte er tonlos. »Sie haben gewonnen. All meinen Plänen, meiner so sorgfältig erdachten Strategie zum Trotz, haben Sie gewonnen. So sollte es nicht enden, glauben Sie mir. Ich war der Stärkste. Ich hätte es verdient, zu überleben.«
»Ich hole einen Arzt«, flüsterte Venetia.
Stilwell bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht. Es gibt kein Heilmittel für dieses Gift.«
Er keuchte auf, wurde von einem letzten Krampf geschüttelt und sackte rücklings auf den Boden.
Dann rührte er sich nicht mehr.
Gabriel kam herüber, bückte sich und tastete an Stilwells Hals nach einem Puls. Als er hochschaute, erkannte Venetia an seinem Gesichtsausdruck, dass er keinen gefunden hatte.
Kurz darauf zog Gabriel sich ein Paar dicker Handschuhe an, das er auf einem der Arbeitstische gefunden hatte, und öffnete vorsichtig das Geheimfach im Boden des Ward’schen Kastens, der die Giftschlange beherbergt hatte.
»Nur für den Fall, dass es noch weitere Überraschungen gibt«, erklärte er Venetia.
Er griff hinein und holte ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch heraus.
»Die Formel?«, fragte sie.
»Ja.«
41
Am nächsten Morgen versammelten sie sich in der Bibliothek des Stadthauses seiner Eltern, um über die Geschehnisse der vergangenen Tage zu sprechen.
Der letzte Nachklang der Jagdlust, die sein Blut zum Kochen gebracht hatte, war verstummt, und Gabriel war sich jetzt schmerzlich bewusst, dass er sich eine zweite Lage blauer Flecken zugezogen hatte. Doch es war das Wissen, dass er es Stilwell ermöglicht hatte, Venetia in seine Gewalt
zu bringen, das ihm in der letzten Nacht den Schlaf geraubt hatte. Er trank gerade seine dritte Tasse starken Kaffee.
»Neben der Formel des Alchemisten haben Venetia und ich auch Stilwells Tagebuch mit seinen Aufzeichnungen über seine Experimente gefunden«, sagte Gabriel. »Er war tatsächlich ein Naturforscher. Zudem verfügte er über bestimmte übersinnliche Fähigkeiten, die den meinen sehr ähnlich waren.«
Venetia runzelte verärgert die Stirn. »Wie ich schon mehr als einmal betont habe, bedeutet die Ähnlichkeit der übersinnlichen Fähigkeiten überhaupt nichts. Sie beide waren so verschieden wie Tag und Nacht.«
Marjorie schenkte ihr ein zustimmendes Lächeln. »Ganz richtig, meine Liebe.«
»Was war Mr. Stilwells Verbindung zur Arcane Society?« , wollte Edward wissen. »Wie hat er von der Formel erfahren?«
Montrose räusperte sich. »Ich glaube, diese Frage kann ich beantworten, junger Mann. Als ich den Namen Stilwell hörte, passten gewisse Fakten plötzlich zusammen. Ist das nicht so, Hippolyte?«
Hippolyte nickte finster. »John Stilwells Vater war Ogden Stilwell. Ogden hatte eine Weile lang einen Sitz im Rat der Arcane Society, bis er aus
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