Verzaubertes Verlangen
sein Geheimnis nur gelüftet haben kann, wenn sie tatsächlich über Verbindungen zum Jenseits verfügt. Oder –«
»Oder was?«, fragte Venetia.
Pierce zuckte mit seinen breiten Schultern. »Oder sie kann Gedanken lesen.«
28
Venetia schaute aus dem Kutschenfenster auf die dunkle Straße, während die Lichter des Janus-Clubs hinter ihnen im Nebel verschwanden.
Gabriel hatte nur wenig gesagt, seit sie sich von Harrow und Pierce verabschiedet hatten. Sie wusste, dass er über die gleiche bestürzende Möglichkeit nachsann, die auch sie nach der beunruhigenden Unterhaltung in nachdenkliches Schweigen hatte versinken lassen.
»Pierce ist fraglos ein Mann der Logik und der Vernunft, dem es gegen den Strich geht, zu glauben, dass Rosalind
Fleming tatsächlich über übersinnliche Kräfte verfügt«, sagte sie versonnen. »Aber wir wissen beide, dass es solche Fähigkeiten gibt. Was denken Sie?«
»Ich denke«, erwiderte Gabriel, »dass wir es hier entweder mit einem weiteren erstaunlichen Zufall oder mit einer echten Spur zu tun haben.«
Sie lächelte sarkastisch. »Ich kann mir denken, wozu Sie eher neigen.«
Er hatte die Flammen der Kutschlampen ganz klein gedreht, so dass das Innere der Droschke in tiefe Schatten gehüllt war. Sie wusste, dass er kein Risiko eingehen wollte, dass jemand aus einer vorbeifahrenden Kutsche sie sah und in ihrer männlichen Kostümierung erkannte. Sie selbst hielt die Wahrscheinlichkeit eher für gering. Der Nebel war inzwischen so undurchdringlich, dass es erstaunlich war, dass der Kutscher und seine Pferde überhaupt den Weg zurück zur Sutton Lane fanden.
Ein unvermittelter Gedanke ließ sie am ganzen Leibe erschaudern.
»Wenn Mrs. Fleming tatsächlich übersinnliche Kräfte besitzt, dann müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie an dem Tag, als ich sie fotografiert habe, meine Gedanken gelesen hat«, hauchte sie.
»Beruhigen Sie sich. Gedankenlesen ist ein harmloses Zauberkunststück, nichts weiter.«
Venetia wollte von ganzem Herzen Trost in dieser Versicherung finden. »Wie können Sie da so sicher sein?«
»Die Forschungsarchive in Arcane House sind erschöpfend. Sie reichen rund zweihundert Jahre zurück und sind das Ergebnis jahrzehntelanger unzähliger Experimente. Es hat niemals auch nur den geringsten Beweis dafür gegeben,
dass ein Mensch tatsächlich die Gedanken eines anderen lesen konnte.«
»Aber es ist immer noch so viel unerforscht, wenn es um das Übersinnliche geht.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, man muss wohl einräumen, dass alles möglich ist. Ich denke allerdings, dass es in diesem Fall eine bedeutend simplere Erklärung für Mrs. Flemings erstaunliche Fähigkeit gibt, jemandem die verborgensten Geheimnisse zu entlocken, ohne dass ihr Opfer etwas davon merkt.«
»Und die wäre?«
»Sie könnte eine sehr begabte Hypnotiseurin sein.«
Venetia ließ sich das durch den Kopf gehen. »Eine interessante Idee. Das würde jedenfalls einiges erklären. Wenn Mrs. Fleming jemanden in Trance versetzt und ihn dazu verleitet, ein intimes Geheimnis zu offenbaren, dann könnte sich die betreffende Person hinterher vielleicht überhaupt nicht mehr erinnern, was passiert ist.«
»Die Forscher der Arcane Society haben sich ausführlich mit dem Gebiet der Hypnose beschäftigt, da einige sie für eine Form übersinnlicher Kräfte halten. Nach allem, was ich gelesen habe, hat die Technik jedoch ihre Grenzen. Zum einen ist nicht jedermann ein geeigneter Kandidat. Manche Menschen lassen sich recht leicht in Trance versetzen. Andere widersetzen sich dem Willen des Hypnotiseurs.«
»Sie kennen sich gut aus, wenn es um das Übersinnliche geht, Gabriel.«
»Ich wurde von einem Vater großgezogen, der diesem Thema sein ganzes Leben gewidmet hat. Die meisten meiner Verwandten haben sich in gleicher Weise dem Studium des Okkulten verschrieben. Man könnte sagen, die Parapsychologie
ist bei uns so etwas wie ein Familienunternehmen.«
»Ein recht ungewöhnliches Betätigungsfeld.«
Er lächelte wehmütig. »Ja, das ist es.«
»Wenn Mrs. Fleming eine Hypnotiseurin ist, dann würde das erklären, wie sie ihren Opfern Geheimnisse entreißen kann, aber es bringt sie nicht mit dem Diebstahl der Formel des Alchemisten in Verbindung.«
»Ich gestehe, ich kann spontan auch keine Verbindung sehen, es sei denn –«
»Es sei denn?«
»Die Mitglieder der Arcane Society stellen oft Nachforschungen über angebliche Medien und dergleichen an. Es ist
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