Verzehrende Leidenschaft
bald entkommen, aber nein, diese Vision blieb mir verwehrt.« Er spürte, dass sie in seinen Armen etwas zusammensackte. »Aber das eine kann ich einfach nicht glauben: Sollte alles, was bisher passiert ist, nur darauf hinauslaufen, dass wir in einem Kellerloch verschmachten? Ich weiß zwar, es ist nur ein schwacher Trost, aber dies kann nicht unser Schicksal sein, dessen bin ich mir sicher. Seht doch nur, welche Pfade wir bislang einschlagen mussten: Ich habe Ivers Falle überlebt, wir beide den Sturz in die eiskalte See. Warum sollte das Schicksal oder Gott uns immer wieder aus den Klauen des Todes retten, nur um uns dann doch dorthin zu treiben?«
Darauf wusste Moira keine Antwort, doch sie vermutete, dass sich wohl jeder Mensch vor seinem Tod solcherlei Fragen stellte, vor allem, wenn er unschuldig war wie sie und Tavig. Einen Moment lang versuchte sie, sich einzureden, dass sie ja noch immer in die Freiheit entlassen werden könnten. Doch das war nicht sehr wahrscheinlich. Man hatte sie der Hexerei bezichtigt, und eine solche Anklage kam einem Todesurteil gleich. Sie hatten keine Fürsprecher, die sich für ihre Unschuld starkmachen würden, und auch kein Geld, um sich freizukaufen. Tavig durfte den Leuten ja nicht einmal sagen, dass er ein Ritter und ein Laird war, denn dann würden sie ihn bestimmt seinem mordlustigen Cousin ausliefern. Als sie sich dabei ertappte, wie sie betete, er möge nicht auf diesen Gedanken verfallen, nur um damit vielleicht wenigstens ihr Leben zu retten, erkannte sie, wie sehr er ihr inzwischen ans Herz gewachsen war.
Diese verstörende Erkenntnis war noch deutlich in ihrem Kopf, als er ihren Mund mit seinen Lippen berührte. Moira schlang die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss mit einer Mischung aus Leidenschaft und Verzweiflung. Leise stöhnend drückte Tavig sie auf den kalten, harten Lehmboden. Sie leistete keinen Widerstand; im Gegenteil, sie genoss die kühne Berührung seiner Hände. Wenn sie schon sterben musste, dann wenigstens erst, nachdem sie das Verlangen, das sie beide verspürten, zur Gänze ausgekostet hatte.
7
Hey, Bursche, jetzt reicht’s aber!«
Tavig brauchte eine Weile, bis die Stimme zu ihm durchdrang, und einen weiteren Moment, bis er merkte, dass er den leidenschaftlichen Ausdruck in Moiras Gesicht genießen konnte, weil jetzt Licht in ihr Gefängnis drang. Als er sah, wie sich ihre Augen vor Verlegenheit, doch auch in einem Anflug von Hoffnung weiteten, schüttelte er den Rest von Leidenschaft ab und rollte von ihrem Körper. Blinzelnd, da sich seine Augen erst an das plötzliche Licht gewöhnen mussten, drehte er sich um und sah hoch. Er war froh, dass er nicht die Zeit gehabt hatte, sich und sie zu entkleiden. Allerdings bedauerte er es natürlich auch, denn diesmal wäre Moira bereit gewesen, sich ihm hinzugeben, dessen war er sich sicher. So froh er über die Möglichkeit war, dem Verlies zu entkommen, so recht wäre es ihm doch gewesen, sie hätte sich erst etwas später ergeben.
»Hoffentlich habt Ihr einen guten Grund für diesen Besuch«, brummte er. Er sah, dass es sich bei dem Störenfried, der nun auf sie herabblickte, um den stämmigen Gastwirt handelte.
Der Mann grinste, während er eine Strickleiter herabließ. »Ihr könnt ja woanders beenden, was Ihr hier angefangen habt.«
Tavig bezweifelte, dass Moira dazu bereit wäre, wenn sie erst einmal in Sicherheit waren, aber er stand rasch auf und zog das Mädchen hoch. »Ihr lasst uns also gehen?«
»Jawohl, auch wenn ich denke, dass Ihr tatsächlich eine Art von Erscheinung gehabt habt«, meinte der Wirt, während Tavig Moira half, die Leiter zu erklimmen. »Aber ich finde so etwas nicht schlimm, vor allem, wenn es meiner kleinen Enkelin das Leben gerettet hat.« Er nahm Moira an den Handgelenken und zog sie durch die Luke.
Moira keuchte erschrocken auf, als ihr Blick auf sechs weitere Leute fiel, die sich um ihr Gefängnis versammelt hatten. Sie wurde erst ruhiger, als sie zwei von ihnen erkannte – die Eltern des kleinen Mädchens. Sobald Tavig an ihrer Seite stand, drückte sie sich an ihn. Ihre Beklemmung schwand, als er den Arm um ihre Schultern legte. Sie konnte es kaum glauben, dass sie freigelassen werden sollten, aber immerhin saßen sie nicht mehr in diesem schrecklichen Loch fest. Schon das verlieh ihr neuen Mut.
»Warum habt Ihr zugelassen, dass sie uns verschleppt haben?«, fragte sie den Wirt, da sie seinem plötzlichen Sinneswandel noch nicht recht
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