Verzehrende Sehnsucht
Blaidd – sicherlich in den Kerker geworfen werden, sofern es einen auf Throckton Castle gab.
Blaidd durfte kein Risiko eingehen. Becca musste schweigen, bis sie weg waren.
"Nein", entgegnete sie schließlich. "Weil ich glaube, dass du dich irrst und sich dein Verdacht als unbegründet erweisen wird. Du hast keine Beweise. Ich werde ihm mitteilen, dass du abgereist bist, weil …"
"Sag ihm, mir ist klar geworden, dass die Frau, die ich liebe, meine Zuneigung nicht erwidert und dass ich deshalb keinen Grund sehe, länger hier zu verweilen."
Becca nickte. "Gut", stimmte sie ihm schroff zu.
Dann lief sie die Treppe hoch, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Als er sie weggehen sah, betete er zu Gott, dass sie eines Tages verstehen würde, warum er das alles getan hatte. Und ihr glauben würde, dass er sie liebte.
Ja, er liebte sie. Dieser Streit tat dem keinen Abbruch. Dass eine Tochter ihrem Vater gegenüber loyal war, verstand er. Das ehrte sie. In ihr hatte er endlich eine Liebe gefunden, die für immer halten konnte. Doch das nutzte ihm nichts. Er würde Becca nicht halten können.
Blaidd war verzweifelt. Jetzt wusste er, wie sein Leben an Beccas Seite hätte aussehen können und dass er die geliebte Frau für immer verloren hatte.
Becca kämpfte mit den Tränen und überquerte, so schnell sie konnte, den Hof. Sir Blaidd Morgan musste sich einfach irren! Ihr Vater war kein Verräter. Das konnte einfach nicht stimmen.
Blaidd war unter falschem Vorwand hierher gekommen. Er war ein Lügner, ein durchtriebener Schurke und Tunichtgut, der ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit für seine eigenen Belange ausgenutzt hatte.
Sie würde froh sein, wenn er endlich abgereist war. Sehr froh!
Sie betrat die große Halle. Die anderen hatten bereits das Morgenmahl beendet. "Wo ist mein Vater?" fragte sie einen Mann.
Dessen Augen wurden bei ihrem harschen Ton groß. Er deutete nur wortlos auf die Treppe, die zu dem Arbeitszimmer ihres Vaters im Turm führte.
Ohne ein weiteres Wort lief sie zur Treppe und stieg langsam nach oben. Beccas Bein schmerzte. Sie legte eine kurze Pause ein und rieb es, dann stieg sie weiter empor.
Becca war entschlossen, ihrem Vater mitzuteilen, dass Sir Blaidd Morgan abreiste. Das war der einzige Grund, warum sie ihren Vater aufsuchte …
Sie machte nahe dem Treppenabsatz wieder eine Pause und lehnte sich gegen die kühle Steinmauer. Nein, das war nicht der einzige Grund. Sie wollte sich das Gesicht ihres Vaters genau anschauen und es mit Hesters vergleichen. Sie wollte sehen, ob in der Behauptung von Hester auch nur ein Fünkchen Wahrheit steckte.
Auch wenn Becca abgestritten hatte, dass Hester Recht haben könnte, fiel ihr plötzlich dies und das ein – lauter kleine Teilchen, die auf einmal ein Ganzes ergaben. Sie entsann sich an Gespräche mit ihrem Vater oder an eine Magd, die irgendwann mal etwas Merkwürdiges erwähnt hatte, oder dass Gespräche plötzlich abgebrochen waren, wenn sie – Becca – aufgetaucht war. Blicke, die gewechselt wurden, wenn alle dachten, dass Becca gerade nicht hinsah. Die Mägde, die immer plötzlich Throckton Castle verließen. Die Toleranz für das männliche "Vergnügen", wie Lord Throckton es nannte. Eine bange Frage drängte sich Becca auf: War Hester womöglich nicht die Einzige?
Dobbin fiel ihr wieder ein, den Gesichtsausdruck, den er gehabt hatte, als er von dem Elend gesprochen hatte, welches ein Mann wie Sir Blaidd einer Frau zufügen konnte. Dobbin lebte seit Jahrzehnten hier. Hatte er von ihrer Mutter und den anderen Ehefrauen von Beccas Vater gesprochen?
"Ihr erwartet von mir, dass ich diesen Krüppel heirate? Das werde ich nicht tun, nicht für diese armselige Mitgift."
Lord Valdemars Worte, die aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drangen, rissen Becca jäh aus ihren Gedanken.
Es gab nur einen Krüppel auf Throckton Castle. Und das war sie!
Becca schwindelte. Das war beinahe noch unfassbarer als Blaidds schockierende Enthüllungen. Sie schlich sich langsam vor. Die Tür des Arbeitszimmers stand einen Spalt offen, nicht weit. Doch weit genug, um einen Blick ins Zimmer werfen zu können. Ihr Vater saß wie gewöhnlich hinter seinem großen Tisch, der wie immer voller Pergamentrollen war. Einige Federn lagen darauf, ein Tintenbehälter, eine mit Sand gefüllte Schale und das Siegelwachs. Das Schwert und das juwelenbesetzte Heft funkelten im Sonnenlicht. Valdemar war offensichtlich wütend und ging erregt vor dem Tisch auf und ab. Die
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