Verzehrende Sehnsucht
tun hatte. Sie musste Blaidd mitteilen, dass er Recht gehabt hatte. Wenn sie das nicht tat, wie konnte sie dann auf Gnade von Henry für sich und das Gesinde hoffen? Oder für ihre Schwester? Ihr Vater hatte diesen Weg gewählt. Die anderen nicht. Da es um das Leben unschuldiger Menschen ging, hatte Becca keine andere Wahl. Sie musste mit Blaidd sprechen.
Sie drehte sich um und versuchte, sich zu bewegen. Ein schauderhafter Schmerz durchzuckte ihr schwaches Bein. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien. Unsicher griff sie nach dem Geländer.
"Wie lange hast du zugehört?"
Becca schaute über die Schulter und erblickte ihren Vater, der bedrohlich über ihr aufragte. Er wirkte wie ein großer gefährlicher Raubvogel. Hinter ihm stand Valdemar.
14. Kapitel
Ihres Vaters Stimme, seine Haltung: Alles an ihm kam ihr brutal und unvertraut vor. Er war ihr so fremd wie Valdemar.
Becca richtete sich auf, sah ihrem Vater ins Gesicht und versuchte, ihre verwirrten Gedanken und noch verwirrteren Gefühle zu ordnen. Ihr war, als wenn sie einem vollkommen Fremden gegenüberstand. Sie presste die Lippen aufeinander, um einen Aufschrei zu unterdrücken, weil wieder ein sengender Schmerz durch ihr Bein zuckte. Sie versuchte, ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, um wieder denken zu können.
"Ich habe dich gefragt, wie lange du schon zugehört hast?" wiederholte ihr Vater streng.
Was sollte sie antworten? Sollte sie zugeben, dass sie alles mit angehört hatte? Was würde passieren, wenn sie das täte? Was würde sie damit gewinnen? Welcher Gefahr setzte sie sich damit aus?
Was sollte sie tun?
Zeit gewinnen. Zeit, um über das Gehörte nachzudenken. Becca musste das alles erst einmal durchdenken und überlegen, was sie mit diesem schrecklichen Wissen anfangen sollte und welches Verhalten sich daraus für sie ergab.
"Ich habe nicht zugehört", log sie. "Ich wollte nur mit dir über die Ration für die Krieger sprechen. Als ich bemerkte, dass du nicht allein bist, beschloss ich, später wiederzukommen." Sie zwang sich, Valdemar freundlich anzulächeln. "Ich hoffe, Ihr habt Euch nicht über die Unterkünfte oder das Essen beschwert."
"Ganz und gar nicht", erwiderte er. Sein Lächeln war noch künstlicher als das ihre. "Ich habe Eurem Vater gerade gesagt, wie sehr ich Euch bewundere."
Jedem Kind wäre aufgefallen, dass er log. Becca musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu verraten. "Tatsächlich? Ich danke Euch, Mylord, für dieses Kompliment."
Ihr Vater beobachtete sie genau. Becca bot all ihre Kraft auf, um sich nichts anmerken zu lassen.
Schließlich entspannte er sich. "Du scheinst Schmerzen zu haben, Rebecca", meinte er und lächelte so freundlich, wie er es gewöhnlich tat.
Sie würde ihm niemals wieder vertrauen können. Weder ihm noch seinem Lächeln.
"Vielleicht kann Valdemar Euch stützen?" fuhr er fort. "Ich muss noch ein paar Pergamentrollen durchschauen."
Sie nickte. Glücklicherweise hatte ihr Vater nicht weiter nachgefragt. Es wäre ihr unter diesen Umständen schwer gefallen, ihre Lügengeschichte noch weiter zu spinnen. Jetzt sollte sie auch noch Valdemars Arm nehmen. Sie würde lieber eine Schlange anfassen als den Arm des dänischen Prinzen.
Ihr blieb jedoch keine andere Wahl, wenn sie sich nicht verraten wollte. Also gestattete sie dem Dänen, ihr den Arm hinzuhalten. Sie ergriff ihn, stützte sich beim Hinuntergehen jedoch hauptsächlich auf das Geländer, so dass ein kleiner Abstand zwischen ihr und Valdemar bestehen blieb.
"Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht nach mir gesucht habt, Lady Rebecca?" fragte Valdemar verlogen. Er schien gleich zur Tat schreiten zu wollen. Becca wurde beinahe übel. Sie spürte seinen heißen Atem. Valdemar umfasste sie fester.
"Nein, ich habe Euch nicht gesucht", erwiderte sie wahrheitsgemäß und versuchte vorzutäuschen, dass seine Nähe und seine Eitelkeit sie nicht störten. "Wie ich bereits sagte, ich habe etwas mit meinem Vater zu besprechen."
Er blieb stehen.
"Worum geht es denn? Ich habe anfangs gedacht, dass Ihr nicht annähernd so reizvoll seid wie Eure Schwester", begann er und berührte leicht ihre Wange, während er den Blick über ihren Körper schweifen ließ, "aber vielleicht habe ich mich geirrt."
"Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass Ihr mir mit solchen Dingen schmeichelt."
"Freut Ihr Euch nicht darüber, dass ein Prinz Zeit mit Euch verbringen will?" fragte er gereizt und drückte Becca gegen die
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