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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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sagte mir, was sie davon hielt, nahm mir manche Bedenken, manche verstärkte sie. Wir schoben die Theorien herum wie Puzzlesteinchen. Als ich beim Schacht angelangt war, dämmerte es draußen. »Wahnsinn, schon wieder so spät«, sagte sie. Es war nicht die erste Nacht in den vergangenen Wochen, die wir durchdiskutiert hatten. Tina war mir nicht abhanden gekommen nach unserem Termin, wir trafen uns auch ohne ihre Zahlen und Karten. Sie war jemand, mit dem ich reden konnte. Ohne überlegen zu müssen, was ich besser für mich behalten sollte. Meiner Familie wollte ich nicht mehr alles zumuten. »Bist du müde ?« , fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und deutete auf die Kanne Kaffee, die vor uns auf dem Couchtisch stand. Es war nicht die erste heute Abend. »Schauen wir noch in meine Karten ?« »Ja«, sagte ich, »vielleicht tut sich noch was mit dem Schacht .« Es tat sich nichts. Nichts, was uns mit dem Schacht weiterbrachte. Dafür tauchte ein Haus auf, neben einem Teich. Irgendwo im Burgenland, nahe der Grenze zu Ungarn. Mir waren schon so viele Häuser und Tümpel erschienen, dass ich dem keine sonderliche Beachtung schenkte. Aber Tina stutzte. »Da könnte was dran sein«, überlegte sie. »Aber du hast keine Ahnung, wo das ist. Auch nur ungefähr.« »Das schreckt mich nicht ab. Ich lasse mich vom Gefühl leiten. Im schlimmsten Fall sind wir ein bisschen in der Gegend herumgefahren, du brauchst eh frische Luft .« Das Einzige, was klar war, war die Richtung. Ostautobahn. Bei der Abfahrt Neusiedl meldete sich Tinas Bauch, wir fuhren auf die Bundesstraße. Ich betrachtete das Ganze mehr als Ausflug und schaute mir die Gegend an. Muss schön sein, hier einfach nur Urlaub zu machen, mit einer Tochter, die nie entführt wurde. Das machen wir, wenn du wieder da bist, Natascha, hier wird’s dir gefallen. »Podersdorf ?« , fragte Tina. »Frag nicht mich, frag dein Gefühl«, sagte ich. Also Podersdorf. Illmitz. Apetlon. Wallern. Pamhagen. Wir fuhren langsam durch die Ortschaften, nahmen da und dort Nebenstraßen, sahen uns die Häuser an und warteten, bis Tinas Radar auf irgendwas reagierte. Ein Haus mit einem Teich, irgendwo im Burgenland. Es war die Reise eines Narren. Auf einer Straße im Nirgendwo schlug etwas an in Tina. »Schaut gut aus«, sagte sie, »das spür ich .« Wir folgten der schmalen Straße und kamen zu einem Haus. Eine Frau hängte Wäsche auf. Wir fuhren weiter, mitten durch ihr Grundstück. Die Frau ballte die Faust und schrie uns an. Wir verstanden kein Wort, aber die Gestik war deutlich genug. »Dreh halt um«, sagte ich. »Nein«, sagte Tina, »da hinten geht die Straße weiter und da ist noch ein Haus, siehst du ?« Im Seitenspiegel sah ich die Frau weiterschimpfen. »Da ist eine Brücke«, sagte Tina. »Da ist die Grenze«, sagte ich. Ein Soldat mit einem Gewehr saß auf dem Geländer. Er ließ uns nicht aus den Augen, als wir die Brücke überquerten und auf das Haus dahinter zufuhren. Er machte aber keine Anstalten, uns aufzuhalten. Gleich darauf war mir klar, warum. »Das ist ein Gasthaus«, sagte ich, »bleib stehen .« Tina parkte das Auto davor. Wir gingen zum Haus. Die Türe war einen Spalt offen. Mäuschenstill alles. Wir sahen uns um. Rechts von uns ein Lattenzaun. Mit Fischköpfen drauf, ein großer und ein kleiner, mit glasigen Augen. Dahinter der Teich. Wir schlichen uns ein Stück weiter. Vorbei an zwei Wohnwagen, zu einem Gatter, an dem etwas befestigt war. Es sah aus, als würde ein Mensch über dem Zaun hängen. Die Angst kroch in mir hoch. Ich wagte mich näher. Es war eine Puppe. Aufgehängt am Hals. Zurück zum Gasthaus. Vorsichtig schoben wir die Tür auf. Leise Geräusche, es musste wer da sein. »Ja? Bitte?« Eine Frau kam uns entgegen. Dick, gemütlich, mit roten Wangen. Ich lehnte mich kurz an den Türstock. Tina übernahm das Reden. Erklärte, was wir hier suchten. Natascha. »Die ist hinten«, sagte die Frau. Mir sackten fast die Knie ein. Einen Augenblick setzte mein Herz aus. »Papa !« , rief die Frau ins Haus. »Da sucht wer deine Tochter .« Meine Tochter! Seine Tochter? Ein Mann tauchte im Gang auf. »Grüß Sie, Neger. Kann man helfen ?« Tina hatte sich schneller gefasst als ich. »Sie haben eine Tochter, die Natascha heißt? Wie alt ist sie ?« »Zehn. Warum?« »Und sie ist Ihr Kind ?« , fragte ich. »Sicher. Wieso?« Tina stellte mich vor.

*

    Der Zufall ist Gottes Deckname, wenn Gott sich nicht zu erkennen geben will. An diesem hier sah man die

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