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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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Kind war irgendwo eingesperrt. Ich bog in eine Seitengasse ein und kam plötzlich gut voran. Meine Stimmung schlug um. Das passierte zusehends öfter in letzter Zeit. Hoffnung. Verzweiflung. Sieg. Siebter Bezirk. Vielleicht brauchte ich doch keine Geduld mehr. Ich hielt vor dem Friseur. Ein Parkplatz, direkt vorm Eingang. Ich ging ins Geschäft. Alle zwölf waren da. Sie begrüßten mich, ich bedankte mich, viel brachte ich nicht heraus, wir verteilten uns auf die Autos. Die nächste Etappe meiner Odyssee konnte beginnen. Wien-Passau. Zweihundertfünfundachtzig Kilometer. Zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten.

*

    Einer aus der Gruppe kannte sich aus in Passau. Er saß in einem der hinteren Wagen. Nach der Abfahrt von der Autobahn stieg er zu mir um. Die Gegend, die in dem Brief aus Slowenien beschrieben war, musste irgendwo am Stadtrand liegen. Ein signifikantes Dachfenster, irgendwo auf einem Vierkanthof. Einfamilienhäuser, Gärten, das klang nach ruhigem Vorort.
    »Passau ist eine wunderschöne Stadt«, schwärmte mein Beifahrer, »ein uralter Bischofssitz, der Barock-Dom ist sehenswert, überhaupt die ganze Altstadt. Aber da müssen wir ja nicht hin .«
    »Vielleicht doch, wenn wir hier außerhalb das Dachfenster nicht finden«, sagte ich, hoffte aber das Gegenteil. »Halten Sie sich links, sonst kommen wir auf die Marienbrücke über den Inn und sind im Zentrum .« Seine Ex-Schwägerin, hatte er mir erzählt, habe hierhergeheiratet, deshalb war er mit der Umgebung vertraut. »Ja genau, ich erinnere mich, da schauen wir zuerst .« Wir fuhren alles ab. Wir schauten uns die Augen aus dem Kopf. Irgendwas war immer anders, als die slowenische Briefschreiberin gesehen hatte. Dann wieder Häuser, die akkurat den Skizzen entsprachen, die sie beigelegt hatte. So was wie Vierkanthöfe, allerdings ohne Luken. Wir machten weiter. Wir kesselten die Stadt ein. Langsam wurde es Abend. »Da !« , rief mein Lotse und zeigte auf ein Gasthaus, »da ist das Fenster!« Es stimmte tatsächlich alles. Das Haus, der Hof, jedes Detail, die Farbe, die Form, die Proportionen. Dieses Dachlukenfenster hatten wir gesucht. »Unglaublich«, murmelte mein Reiseführer. »Das gibt’s ja nicht .« Er hatte nicht hinter sich, was ich hinter mir hatte. Man fährt nicht mit nichts als einer Zeichnung in eine fremde Stadt nach Deutschland, um eine Dachluke zu suchen. Um Luftschlössern nachzujagen. Mein Hilfstross war mitgekommen, um mir zur Seite zu stehen. Ob da wirklich jeder von ihnen an ein Wunder glaubte, war nicht so wichtig. Ich hatte keine andere Chance. Und jetzt war ich mir sicher, dass wir kurz vor dem Durchbruch standen. Dass Natascha hier war. Irgendwo hinter diesem Fenster. Die Dämmerung hüllte unsere Reisegruppe ein. Ein lauer Wind zog auf. Eine Frau hielt mir ein Kopftuch hin. »Setzen Sie sich das auf«, sagte sie, »sonst erkennt Sie noch jemand .« Ich nickte ihr zum Dank zu. »Wir müssen da rein«, sagte ich in die Runde, »in den Hinterhof, im nächsten Haus, da ist die Natascha .« Die Aktion lief an. Ich voran. Drauf und dran, mein Kind zu befreien. Alles passte zusammen. Nur dieser Hof noch. »Was machen denn Sie da ?« Das Bayerische war unverkennbar. »Wir suchen wen .« »Ja, wen denn leicht ?« Ich gab keine Antwort, wollte nur an ihm vorbei. »Ah, so geht das nicht, das ist Privatbesitz .« »Sie verstehen nicht... « »Nein, Sie verstehen mich nicht. Verlassen Sie bitte das Grundstück mit ihren... « Er musterte meinen Begleittrupp. »Sonst hol ich die Polizei .« »Ja, tun Sie das ruhig«, sagte ich, »die sollen nur kommen .« Ich war mir nicht nur sicher, dass die Natascha hier festgehalten wurde, ich wusste es. Der Mann zückte sein Handy und wählte schon. Mein Beifahrer nahm mich am Arm. Ich wollte ihn abschütteln. »Kommen Sie«, sagte er fast sanft, »lassen wir’s gut sein, die verhaften uns noch .« Er führte mich zum Auto. Ich ging mit, wie durch Watte. Er nahm mir den Schlüssel ab, setzte mich auf den Beifahrersitz und sagte leise: »Natascha ist nicht hier. Wir fahren heim .« Ich schloss die Augen.

*

    Ich rührte mich kein einziges Mal während der Fahrt. Ich schwieg, ich folgte dem Spurstreifen auf der Autobahn mit den Augen, bis sie brannten. Ich machte sie wieder zu. Nach außen wirkte ich völlig weggetreten, innerlich war eine Welt am Zusammenbrechen. Alles geriet außer Kontrolle, drehte sich, entfernte sich, stürzte auf mich ein, zermalmte mich. Ich hatte nichts entgegenzusetzen. Ich

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