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Video-Kid

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Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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herflappenden Zellmaterial nach unten. Alles war dunkel. Eine kurze Strickleiter, kaum länger als sechs Meter, führte in die Dunkelheit, wo sich ein großes Stück reichen, schwarzen und muffig riechenden Grundbodens ausbreitete, das Wurzeln und Kabel zusammenhielten; die Nutzlast der Insel. Siebzehntausend Tonnen trug dieser Ballon, hatte der Professor gesagt. Ein ganzer Wald aus dicken Strängen verband das Erdreich an über hundert Stellen mit den Zellen und verteilte so den Zug der gewaltigen Last. Langsam trocknete der Boden aus, im Ausgleich zur nachlassenden Steigkraft durch das allmähliche Austreten von Wasserstoff aus dem Ballon.
    »Mensch, sieh nur, die eigentliche Insel!« rief ich. »Komm, wir wollen hinuntersteigen und nachsehen, was sich alles in der Wurzeltasche befindet.«
    »Hier, nimm eine von den Birnen«, sagte Anna und reichte mir eine. »Geh du schon voran, ich komme sofort nach.« Ich setzte die Birne mit ihrer klebrigen Seite an den Ärmel meines Einteilers. Dann trat ich an die Strickleiter und grinste insgeheim. Bedauernswerte Anna, sie schämte sich so sehr ihrer natürlichen Bedürfnisse und Funktionen, daß sie es nicht ertragen konnte, ihnen nachzugeben, solange ich mit ihr das Zimmer teilte.
    Vorsichtig kletterte ich Hand um Hand hinunter, denn ich war von dem Smuff noch etwas benommen. Eine bröckelige, trockene Kruste, durchzogen von fibrinösen weißen Wurzeln, hatte sich über das sonnengebackene Erdreich gelegt. Sie war dick genug, um mein Gewicht zu tragen, und bald hatte ich mich an den durchdringenden Geruch gewöhnt.
    Der Professor hatte uns gesagt, daß die siebzehntausend Tonnen reichen und schwarzen Bodens von einem Wurzelgeflecht in der Form einer Halbkugel zusammengehalten würden, die im Zentrum, wo sich die Hauptwurzel befand, am stärksten ausgebaucht war. Die Halbkugel hatte einen Durchmesser von knapp zwanzig Metern und war an der dicksten Stelle etwa sechs Meter tief. Das gesamte Erdreich war mit einem heftigen Ruck aus dem Meerboden gerissen worden. Dort in den dunklen Tiefen lag jetzt ein Krater. Ein Teil des Lastvolumens setzte sich aus dem durchlässigen Netzwerk der Wurzeln zusammen, der Rest bestand aus dem reichen Schlamm, den das Meer einst gestohlen hatte und nun zurücksandte.
    Ich ging in die Hocke, um mir den Boden anzusehen, und stocherte behutsam mit dem Ende meines Nunchucks darin herum. Die weißen Wurzeln waren unglaublich zäh. Gefangen in ihren Verästelungen lagen Tonnen von Muschelfragmenten, vergilbten Fischgräten und festerem Schlick, der sich bereits halb in weichen Schiefer verwandelt hatte. Ich grub einen langen, rissigen, zerbrochenen Rochenzahn aus und klopfte die Erde von ihm ab. Er war so lang wie meine Hand breit war.
    Einige Meerbodenkrabbler krochen herum; Tiere, die zum Fliehen zu schwach, zu langsam oder zu dumm waren, als die Insel ihren Aufstieg begonnen hatte: Seesterne, dicke, darmartige Grundwürmer mit gepanzerten Köpfen, einige winzige Glattrochen und ein paar großäugige Flundern, deren Körper bis zum Zerplatzen aufgebläht waren. Ich drehte eine der Flundern mit dem Fuß um, und eine ganze Heerschar von Kleinkrabben in der Farbe der Wurzeln sauste darunter hervor. Ihre einzigen Zangen waren voll von faulendem Fleisch. Ich fragte mich, wie die kleinen Aasfresser die Detonation überlebt hatten. Vielleicht fielen sie ja einfach von der Insel, sobald sie sich die Bäuche vollgeschlagen hatten.
    Ein paar Schritte weiter trat ich in einen Tierbau und wäre fast gestürzt. Ich weiß nicht, wer diese Erdhöhle errichtete hatte, aber er oder sie zischte mir wütend nach, als ich mich weiterzukommen bemühte.
    Hier war Träumerei selbst am Werk. Selbst in diesem temporären Ökosystem drängte das Leben in jede erreichbare Nische.
    Ich sah, wie Anna die Leiter heruntereilte. Ihre weißen Kleider umwehten sie dabei wie ein überdimensionierter Heiligenschein. Sie hatte ihr Heiligengewand einstweilen aufgegeben, denn wir konnten kein Wasser dafür verschwenden, das grobe Material auszuwaschen. Zierlich stieg sie vom Ende der Leiter, und ihre Füße hinterließen kaum einen Abdruck auf der Erdkruste. Anna hatte sich auf jede Schulter eine phosphoreszierende Birne gesteckt.
    »Oh, hier sieht es ja so aus wie im Märchenland«, rief sie, während sie sich mit großen Augen umsah.
    »Diese verschlammte Öde?« hätte ich fast geantwortet, hielt mich aber zurück und versuchte statt dessen angestrengt, dieses Land durch Annas Augen

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