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Video-Kid

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Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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stellen.«
    Moses Moses grinste. »Der Tod kommt einmal zu uns allen, aber nicht immer so rasch wie zu ihnen. Der Tod hat auch schon seine Hände nach mir ausgestreckt. Er wohnt in meinem Körper, beeinflußt meine Bewegungen. Ein Mann kann sich glücklich schätzen, wenn er dreihundert Jahre alt wird. Wenn sein Leben ein Ziel hat, wenn dieser Mann ein Ziel hat, an dem sich sein Wille weiterzuleben festhalten kann, dann mag er dreihundertundfünfzig Jahre alt werden. Aber der Drang zu sterben ist ebenso stark wie der zu leben. Ersterer manifestiert sich nur weitaus subtiler. Nachdem ich die Dreihundert überschritten hatte, machte der Tod immer stärker sein Recht auf mich geltend. Still und unmerklich zuerst, doch dann drängend und fordernd. Der körperliche Zerfallsprozeß spielt dabei eine gewichtige Rolle.«
    Er sah uns an und meinte dann langsam und ernst: »Es begann mit dem Ausfall meines Gedächtnisses. Weit zurückliegende Erinnerungen waren schon vor langer Zeit verwischt. Ich hatte mich eines Computers bedient, um sie nicht ganz zu verlieren. Aber dann mußte ich entdecken, wie ich stetig zerstreuter wurde. Ich vergaß, was sich am Tag zuvor zugetragen hatte, und bald auch, was vor wenigen Stunden gewesen war. Ich wußte nicht mehr, ob ich nun eine Mahlzeit zu mir genommen hatte oder nicht. Ich vergaß Mitteilungen und Verabredungen, und ich wiederholte mich ständig bei Gesprächen. Doch damit nicht genug: Ich litt unter dem alptraumhaften Gefühl, eine ganze Woche noch einmal zu durchleben. Das verrückte Gefühl beherrschte mein Bewußtsein, die Zeit kehrte sich um, daß ich wie in einer Zeitschleife in einem Endlosband gefangen war.
    Ich bemerkte, daß ich dünner wurde, daß mein Körper schwächer wurde und sich kaum noch aufrecht halten konnte. Immer weiter geriet ich in die klassischen Degenerationssymptome, die bei extrem hohem Alter auftreten. Wir nennen diesen Zustand Panan. Kennt ihr diesen Ausdruck? Wird er immer noch verwendet?«
    »Ja«, antwortete ich. »Ich kenne ihn. Pananästhesie, eine Art allumfassende Betäubung.«
    »Das trifft es nur halb«, sagte Moses Moses. »Natürlich beinhaltet sie eine physische Betäubtheit. Im schlimmsten Fall kann man sich die Finger in einer Tür zerquetschen und merkt nichts davon, bis man das Blut tropfen sieht. Aber mit Panan ist auch eine geistige Betäubtheit verbunden. Die stärksten Gefühle und tiefsten Überzeugungen rinnen aus einem wie Wasser aus einem zerbrochenen Krug. Apathie wird zum vorherrschenden Zustand. Schwarze Depression setzt ein, ganz plötzlich, ohne vorherige Warnung, dann, wenn man sie am wenigsten erwartet hat. Man fühlt sich auf ganz entsetzliche Weise vom Leben abgeschnitten, als stünde man unter einer Art Käseglocke und sähe, wie die Mitmenschen draußen agieren.« Moses schüttelte sich.
    »Großer Gott, es schmerzt immer noch, wenn ich nur davon erzähle. Die wunderbaren Dinge, die einen am Leben erhalten haben, die den Wert des Lebens auszumachen schienen, haben sich davongestohlen. Sex zum Beispiel. Seit langer Zeit bin ich schon impotent, Jahrzehnte schon. Aphrodisiaka haben das rein Körperliche beim Sex aufrechterhalten können, aber es kam mir jedesmal so vor, als erlebe ein anderer den Orgasmus, und ich sei nur ein unbeteiligter Zuschauer. Man fühlt sich mit seinen Organen nicht mehr im Einklang; als stünde man neben seinem Körper. Und das ist das Schlimmste an der Panan. Sie ist eine Form von Wahnsinn, die besonders die Alten befällt. Man gelangt immer mehr zu der Überzeugung, daß der eigene Körper nutzlos ist und einen nur noch belastet. Man fängt an, seinen Körper zu hassen, beginnt, sich selbst zu verachten. Man erwischt sich dabei, wie man seinem Körper kleine Bestrafungen zufügt. Man wird anfällig für Unfälle und Mißgeschicke. Die meisten alten Leute sterben an solchen Unfällen, sterben an indirektem Selbstmord. Nur die wenigsten von ihnen haben den Mut, sich dem Tod direkt zu stellen und Selbstmord zu begehen.
    Aber ich wollte nicht sterben. Bei klarem Verstand haßte ich die Vorstellung, nicht mehr zu leben. Unterbewußt aber plante ich meine eigene Vernichtung. Ich kam zu der Überlegung, daß nur ein Schock mir helfen könnte, meinen Lebenshunger neu zu entfachen. Also bestieg ich Berge, flog mit einem Gleiter und tauchte ins Meer. Ich suchte bewußt solche natürlichen Risiken und dachte mir neue aus. Nichts davon führte zum eigentlichen Ziel. Statt dessen erlebte ich die andere

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