Viele Mütter heißen Anita
Schlafmelodie. So erwachte Concha auch erst, als Toledo längst hinter ihnen lag und der Wagen brummend am Rio Guadarrama entlangfuhr.
Es war Abend, als sie Madrid erreichten, und auch Concha war ergriffen von den Lichtreklamen und den tausend Lampen und Scheinwerfern, die sie wie Juan zum erstenmal im Leben sah. Ricardo Granja stieg in einem mittleren Reisendenhotel ab, und er hatte Glück, noch zwei Einzelzimmer zu bekommen, denn es war Ferien- und Reisezeit, und viele Gäste aus Frankreich, England, Amerika und Deutschland bevölkerten Madrid und ließen gutes Geld in den Hotels zurück.
Nach dem Abendessen setzte sich Ricardo zunächst in die Bibliothek des Hotels und las die neuesten Zeitungen. Dabei horchte er einen Kellner nach den besten Lokalen aus, wo man, nach seinen Worten, für sein Geld auch ›etwas sah‹. Dabei zwinkerte er mit den Augen, und man verstand sich gut, denn der Kellner nannte einige Adressen, die in keinem Baedeker stehen, und Ricardo Granja war froh, daß seine Tochter müde war und früh auf ihr Zimmer verschwand. Er wartete noch ein wenig in der Halle, dann zog er sich schnell um, steckte seine dicke Brieftasche ein und eilte aus dem Hotel zu einer Autotaxe, die ihn hinaustrug in das Leben der Weltstadt Madrid, in die Sehnsucht des kleinen Mannes, der eine Nacht wenigstens groß sein möchte …
Concha wartete, bis sie vom Fenster aus den Vater abfahren sah. Dann erst zog sie sich um und nahm aus dem Koffer den Zettel, auf dem die Adresse Juans stand. Auch sie mietete sich eine Taxe und ließ sich aus Madrid hinaus in die stille Villenvorstadt fahren, wo das Auto knirschend vor dem hell erleuchteten Haus Fredo Campillos hielt.
Concha zahlte und stand dann allein in der Nacht vor dem Gartentor der weißen, großen Villa. Sie sah durch die nicht verhängten Fenster die prunkvollen Zimmer, das schöne Foyer und ab und zu die Gestalt eines älteren Mannes, der wohl Fredo Campillo sein konnte, denn er war so vornehm gekleidet und sah so würdevoll aus. Daß es der Diener war, ahnte Concha nicht, denn Campillo war fort zu einer Sitzung im Kunstsenat, und Juan saß oben in seinem Zimmer und zeichnete kleine Skizzen aus dem Park hinter der Villa. Er hatte das große Flügelfenster geöffnet und ließ sich einhüllen von dem Duft der Blumen und dem Rauschen der Zypressen und Palmen. Er war glücklich, denn Prof. Moratalla hatte ihm die Hand gedrückt und ihm gesagt: »Alles in Ordnung, junger Freund. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen!« Und auch Dr. Osura war sehr glücklich, als er abfuhr – er hatte Juan umarmt und an sich gedrückt, und auch Ramirez Tortosa war guter Laune und versprach, ihn öfter zu besuchen. Das alles nahm Juan als Bestätigung seiner Überzeugung, daß seine merkwürdige Krankheit des Herzens ganz verschwunden sei, und mit einem Eifer, den Campillo, sorgenvoll ihn von allen Aufregungen fernhaltend, kaum zu dämmen wußte, stürzte er sich in die Kunstgalerien und zeichnete zu Hause Blatt nach Blatt und entwarf Gruppen von seltener ästhetischer Schönheit, die er einmal in Marmor hauen wollte.
Concha stand noch immer vor dem Haus und wagte nicht, auf den kleinen goldenen Klingelknopf an dem steinernen Torpfosten zu drücken. Sie wußte überhaupt nicht, was sie sagen wollte, wenn man sie nach ihrem Wunsche fragte, denn es war doch unmöglich, daß ein junges Mädchen einen Mann spät am Abend allein ohne die Begleitung der Mutter besuchte, es sei denn, sie sei sehr freier Natur und nicht erzogen nach dem Sittengesetz der guten Spanierin.
Langsam ging sie den Zaun entlang und blickte durch eine Buschlücke in den Park. Er war schwarz, nicht erleuchtet, denn die Zimmer der Rückseite lagen in vollem Dunkel. Nur oben, über dem Balkon und der Terrasse, war ein breites, tief hinabreichendes Fenster offen und warf einen dünnen schrägen Strahl in die Gipfel der Zypressen.
Concha sah sich nach allen Seiten um. Die Straße war leer und halbdunkel. Da schwang sie sich auf den Zaun, sprang in den Park hinab und schlich durch die rot und weiß blühenden Oleanderbüsche und trat dann in den Zypressenhain, der das Mittelstück des Gartens bildete. Von dort konnte sie das helle Fenster über der Terrasse sehen, und sie lehnte sich an die rissige Rinde eines Baumes und wartete. Worauf, das wußte sie nicht. Auf Juan? Auf Campillo? Auf irgendeinen, der sie entdeckte? Sie zitterte bei dem Gedanken, daß man sie hier finden würde, und sie wurde voll Angst vor der
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