Vielen Dank für das Leben
Oder zu wenig. Oder zu viel.
Toto besichtigte jeden Tag Wohnungen. Immer klein, immer billig, immer stand sie in einer Reihe mit zweihundert anderen. Keiner hier träumte von renovierten Altbauten mit Flügeltüren.
Toto wirkte durchaus insolvent. Mit einer Augenklappe, vernarbenden Kopfwunden, teils abrasiertem Haar und einer Haut, die nach dem Gewichtsverlust traurig an ihr herabhing, sah sie nicht mehr jung und komisch aus, sondern plötzlich alt und seltsam. Was vermutlich an den Schmerzen lag, der unzureichenden Nahrungsaufnahme oder der Erkenntnis, dass es sich nicht einfach so ergeben wollte, das Leben, dem Zufall folgend. Die Einraumwohnung, die Toto dann nach zwei Wochen bekam, wollte keiner außer ihr und einem sehr offensichtlich drogenabhängigen Pärchen ohne Zähne. Die waren jetzt wieder öfter zu sehen, diese mangelhaften Gebisse und offensichtlichen Entstellungen, die früher nicht Entstellungen genannt worden waren, sondern einfach Mensch.
Totos neue Wohnung war nicht zu retten. Sie konnte sehr gut als Kulisse für ein ukrainisches Sozialdrama verwendet werden, an einer sechsspurigen Hauptstraße gelegen, wo sich nichts Erfreuliches aufhielt. Das Badezimmer verfügte nur über eine Dusche. Toto verstand den Drang des Menschen nicht, sich mit kaltem Wasser zu besprühen wie eine Topfpflanze. Um in die Dusche zu gelangen, musste man über die Toilette steigen. Vom engen Flur ging es in die winzige Küche, die auf die Hauptstraße schaute, sie war orange gekachelt, daneben befand sich die Verwahrungsstätte, das Zimmer. Immerhin gab es ein Fenster, da kann keiner maulen.
Toto bekam den Schlüssel von einem zahnlosen Hausmeister und zog am folgenden Tag mit ihrer Matratze und ein paar Taschen um. Sie vermeinte hinter jedem der Fenster in ihrem ehemaligen Haus einen nickenden Bewohner stehen zu sehen, als sie, ihre Plastiktüte in der Hand, die Haustür hinter sich schloss.
Die Matratze lagerte sie später auf einem Brett und Ziegelsteinen. So befand es sich in der Höhe des Fensters, und Toto konnte auf dem Bett liegen und auf die sechsspurige Straße schauen. Am Boden lag die Vortäuschung von Parkett aus Plastik. Nun, wenigstens ein Bett und eine Heizung. Misstrauisch schaute Toto einen riesigen Kasten an, der im Raum stand und vom betrunkenen Hausmeister als Nachtspeicherofen angepriesen worden war. Toto freute sich über ihre großartige Bettkonstruktion, die Spanplatte, die Aussicht, das Bett gab dem Raum etwas Erhabenes, fast konnte man sich Tokio denken, da unten in der Dunkelheit, und dann begann die Nachtspeicherheizung gemütlich zu knacken. Es würde sich etwas ergeben.
Sie würde wieder singen, vielleicht Konzerte geben. Das war doch nicht mehr, dieses Leben, als eine willkürliche Abfolge von seltsamen Umständen. Ein Provisorium jeder Tag.
Im Treppenhaus schrien sich die Nachbarn an.
Toto schlief ein, von draußen Licht der Autoscheinwerfer. Morgen. Morgen wird sie einen Zufall treffen.
Und weiter.
Sie weinten oft, die Gäste, wie sie per Heimordnung genannt werden mussten. Sie weinten und wollten gestreichelt werden, wollten hören, dass alles noch gut wird, sie hier rauskommen, zurück in ihre Wohnungen, wo sie sich vorfinden würden mit ihrem früheren Körper, der noch nicht schmerzte, Augen, die noch etwas sahen, und einer verdammten Hoffnung, die da noch wäre, die konnte ihnen Toto doch nicht geben, eine Hoffnung, hier, auf der letzten Station. Sollte sie sagen, dass es besser würde, nach dem Sterben, das konnte sie nicht, denn zu oft saß sie als einzige da und wohnte der Kremierung der Gäste bei, die morgens starr im Sterbezimmer gelegen hatten, das Sterbezimmer, das nur durch einen Vorhang von der Besenkammer abgetrennt war und kein Fenster hatte, da gab es tatsächlich kein Fenster, und wehe dem, der an eine Seele glaubt, die fliegend den toten Körper verlässt. Toto konnte nur an den Betten sitzen und Hände streicheln und Gesichter und den Plan nicht erfüllen und von den Kollegen gehasst werden, weil sie den Plan nicht erfüllte, weil sie sich zu viel Zeit nahm zum Streicheln, und die Drecksarbeit mussten dann die anderen machen, das Füttern, Wenden, wunde Stellen einreiben, das Abschütteln von Händen, das blieb den anderen. Toto konnte das nicht. Die Betreuung war wichtig, essen mochten die meisten nicht mehr, sie konnten nur noch reden, sich erinnern und brauchten jemanden, der ihnen sagte, ihr Leben sei etwas Besonderes gewesen, besonders schön, da
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