Vielen Dank für das Leben
komischen Riesen nicht, wollte ihn nicht sehen, nicht anfassen, nicht beschützen und nicht erziehen. Sie glaubte nicht daran, dass aus ihm noch irgendjemand werden konnte, der sich unauffällig und angenehm durch den Sozialismus bewegte, einen Meter achtzig groß, und alles, was er besaß, passte in einen kleinen Sack, das hätte einen traurig machen können, aber dazu war keine Zeit. Frau Hagen, in einem Faltenrock, mit braunen Halbschuhen und einer albernen dunkelblauen Bluse der sozialistischen Jugendorganisation, rannte die Treppen fast hinunter. Schweigend standen sie kurz darauf an einer Bushaltestelle und starrten in den Himmel. Hatten sie keine Zeit, mich abzuholen, die neuen Eltern, fragte Toto und erhielt keine Antwort. Nun, wie es aussah nicht, vermutlich hatten sie alle Hände mit dem Dekorieren des neuen Jugendzimmers zu tun. Sicher sprachen sie seit Tagen von nichts anderem als von dem reizenden Kind, das bald mit ihnen leben würde. Ja, ich bin schon ein Geschenk. Toto sah sich um. Es war gegen Mittag, seine Mitinsassen – hatte er gerade Insassen gedacht? – waren in der Schule oder im Kindergarten, als er abtransportiert – hatte er das auch gedacht? – wurde. Kein tränenreicher Abschied von niemandem, vermutlich würde keinem sein Fehlen auffallen, wozu auch übertriebene Sentimentalität, man hatte ja nur ein paar Jahre zusammen in einem Raum geschlafen.
Die Sonne fiel in fahlem Winkel, und noch nicht mal die achtziger Jahre waren hier aufregend, in diesem Land, das dauernd Mittagsschlaf hielt. So müde machte das, zu sehen, wie überall die Welt erwacht, sich streckt und gähnt, den Punk erfindet und Schulterpolster. Da musste man doch müde werden und über die Straßen schlurfen wie somnambul, wenn nicht einmal Schulterpolster vorbeikamen und man doch im Fernsehen sah, wie aufregend es zuging überall auf der Welt.
Frau Hagen war in sich zusammengesunken, der Bus ließ auf sich warten. Eine halbe Stunde bereits standen sie hier, an einer Ausfahrtsstraße der Stadt. In zehnminütigen Abständen rollte ein sozialistischer Kraftwagen vorbei, der Bus kam nicht, die Straße voller Schlaglöcher, ein altes Bahnhofsgebäude, die Sonne immer noch hinter Milchglas, Staub in der Luft, sogar die Bäume am Straßenrand waren zu träge, ihre Blätter komplett auszurollen. Mit Leichtigkeit hätte Toto Frau Hagen über seine Schulter werfen und mit ihr davontraben können. Immer die Landstraße lang, die musste ja irgendwann mal irgendwo enden. Vermutlich vor einem alten Bahnhof. Dieses Land war dermaßen frei von Überraschung, dass seine Einwohner missmutiger wurden mit jedem Tag, den sie in ihm verbrachten. Inzwischen waren Gerüchte von Korruption und Bereicherung hoher Parteifunktionäre aufgetaucht, von Westgeld redete man und Villen, die Menschen wurden unruhig. Der billige Alkohol allein schien nicht mehr auszureichen, darum wurden Beruhigungstabletten auf hochdosierter Brombasis in den Handel gebracht, zusammen mit Hustentropfen, die sehr viel Kodein enthielten und erstaunlich verschwommene Zustände herstellen konnten.
Im Bus waren nur wenige Frauen, sie kamen vom Einkauf in der Stadt, verließen sie jetzt auf einer Landstraße, von Apfelbäumen bestanden, warum wurde er nur so traurig bei ihrem Anblick? Etwas Wildes erwachte in Toto. Er sah sich mit einem Kofferradio auf öffentlichem Gelände sitzen, inmitten einer Punkergruppe, er würde gern einmal bedrohlich wirken und aus diesem richtigen Grund angestarrt werden. Enorme Furcht, zum Beispiel, wäre ein guter Grund. Totos Hände lagen wie zwei warme Brötchen auf seinen Knien, es ist ein anspruchsvoller Job, gefährlich zu wirken, wenn man aussieht wie ein großer Plüschbär.
Nach einer Dreiviertelstunde schweigsamer Fahrt hielt der Bus fast widerwillig vor einer Ansammlung verfallener Häuser. Der Busfahrer sah sich nervös um. Mit quietschenden Reifen und mit einer für den in Ungarn aus Plastikteilen zusammengeklebten Ikarus-Bus unerhörten Geschwindigkeit raste der Bus aus dem Ort, der Trötbach hieß.
Trötbach bestand aus fünf Häusern mit angrenzendem Stall, einer Bank an der Bushaltestelle und natürlich der unverzichtbaren Kneipe. Sie hieß Zum Krug. Es waren keine Menschen zu sehen, auch schien der Frühling in Trötbach noch nicht angekommen. Die Bäume standen kahl, und das Gras wirkte, als habe gerade noch Schnee auf ihm gelegen, matschig und gelb. Toto fror und stand neben der unsicher wirkenden Frau Hagen. Der Moment,
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