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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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begannen sie sich zu schlagen, um im Anschluss halbnackt taumelnd zu tanzen. Toto hatte keine Ahnung, was die beiden taten, aber es gefiel ihm nicht. Das Paar war von etwas Abstoßendem umgeben. Doch Toto konnte nicht wegsehen. Er wollte gerne verstehen, warum die beiden mit sich taten, was ihnen offensichtlich keine Freude zu bereitete. Irgendwann fiel Rüdiger über der Frau zusammen. Sie erbrach sich, ihr Mann versetzte ihr mit der Faust einen Schlag auf den Kopf, als wolle er einen Deckel schließen. Leise öffnete Toto die Tür, Thea atmete, wie er feststellte, er musste sie nicht retten. Er tauschte das englische Wörterbuch unter dem Tisch gegen einen Band Andersens Märchen aus, die er neben dem Fernseher fand, die Lücke, die bei der Entnahme des Kapitals entstand, füllte er mit einigen Dosen Katzenfutter vom Boden, Thea schnarchte, und Toto stieß noch auf eine Kiste, die mehrere Bände Einführung in die klinische Psychologie und Noten enthielt. Als er den Raum mit seinem Fund verlassen wollte, ging die Deckenlampe an. Rüdiger stand schwer atmend im Raum. Er schwankte. Vermutlich litt er an der gleichen Krankheit wie seine Frau, die immer noch schnarchte.

Und weiter.
    Toto erwachte jeden Morgen um vier und war von seiner Selbstprogrammierfähigkeit immer wieder aufs Neue überrascht. Eine Uhr benötigen wohl die, die in ein Leben gehen, dessen Ablauf sie nicht kontrollieren können, und daran leiden. Toto wusste, dass sein Einfluss auf die Welt beschränkt war. Er könnte beim Betreten des Stalles in eine Mistgabel stürzen und wäre behindert. Das Land könnte bombardiert werden, die Welt explodieren, nichts konnte man beherrschen.
    Es wäre Toto nie eingefallen, die Kühe, die ebenfalls um vier unruhig wurden, für die perfekte Funktionalität seiner inneren Uhr zur Verantwortung zu ziehen. Was bin ich für ein lebendes Meisterwerk, sagte er sich jeden Morgen. Ich komme, rief er den Kühen zu und glaubte, sie antworten zu hören. Toto wusste, dass Tiere über die gleiche Intelligenz verfügen wie Menschen und allein durch eine Verkettung unglücklicher evolutionärer Umstände in Körper ohne Stimme und ohne praktische Hände geboren werden.
    Die Tiere waren Freunde geworden und Publikum. Seit Toto die Noten des Melodrams Liselotte Herrmann von Paul Dessau aus dem Haus seiner Erziehungsberechtigten entwendet hatte, war er besessen von der Idee, sie zu verstehen. Er hatte die Noten angestarrt, voll Ehrfurcht, über Wochen. Es musste großartig sein, etwas zu beherrschen, was hinausreichte über die Selbstprogrammierung als Wecker.
    Toto beschäftigte sich jeden Tag für Stunden mit den Noten, die er betrachtete, bis sie zu Wegen wurde, dunklen, hellen, verhangenen, denen er leise mit seiner Stimme folgte.
    Als er das erste Mal einen lauten klaren Ton erzeugte, war Toto erschüttert. Er ahnte etwas von dem Gefühl, das gekonntes Singen zu erzeugen vermag, von dem Selbstvergessen, das es bedeuten konnte. Toto hatte keine eitle Absicht, er wollte weder eine Bühne noch Erfolg, er hätte nur gerne etwas ausgedrückt, dem er keinen Namen geben konnte, und wäre dadurch in einen Kontakt mit der Welt getreten.
    Einen Ton hatte er festgelegt, mit einer Gabel auf das Bettgestell schlagend, um ihn herum formten sich die anderen, punktierte Noten stellte sich Toto kräftiger vor oder länger, das würde er noch herausfinden. Er sang zu hoch, doch was heißt zu hoch oder zu tief für einen, der hinter dem Haus in einem alten Traktor sitzt oder daneben steht und das Singen übt in einem Dorf, das sich aufgelöst hatte. Toto schloss die Augen und sang, sehr leise, wie flüsternd, er wagte nicht laut zu werden, er fürchtete sonst zu schnell zu begreifen, dass er niemals einen sauberen Ton würde singen können. Toto wusste nicht, dass er ein absolutes Gehör besaß, wie Mozart oder Chopin. Nur einer unter zehntausend in Europa kann die Höhe einer Note erkennen, ohne vorher einen Vergleichston gehört zu haben. Zwar sollte man Jahrzehnte später herausfinden, dass diese Gabe in der westlichen Welt selten ist, jedoch in manchen Gebieten Asiens fast jeder zweite über sie verfügt, weil das absolute Gehör von tonalen Sprachen wie Mandarin oder Vietnamesisch, in denen die Wörter erst durch die Betonung ihre Bedeutung erhalten, trainiert wird. Tonal war Totos Sprache nun wirklich nicht. Denn sie wusste um unsere Sache, sang Toto leise, das Melodram Lilo Herrmann ist ein sperriges Stück Musikgeschichte, und was

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