Vielen Dank für das Leben
Boden zu küssen, vielleicht würde er später einmal, in völliger Überschätzung seiner Wichtigkeit für die Erde, vom Beginn einer Schicksalsbeziehung sprechen. Er und die Stadt, die er als Immigrant per Zufall gefunden hatte. Er würde in Interviews von seiner Hassliebe zu dieser Stadt reden.
Vor dem offenbar aus Edelstahl gefertigten Bahnhof befand sich das, worauf Toto in zehn Schuljahren vorbereitet worden war: die Kehrseite. In der sozialistischen Schule war immer von dieser Kehrseite die Rede gewesen, und hier war sie nun endlich, in Form von Männern und Frauen, die sich prostituierten, und Drogensüchtigen, die sich vor oder nach dem Drogenkonsum auch prostituierten. Kleine Mädchen mit dünnen Beinen und ohne Zähne saßen in ihren Exkrementen. Jungs in Leder schauten ihn aus müden Augen an und leckten sich die aufgesprungenen Lippen. Das also war das versprochene Elend, und wo es Elend gibt, muss es auch Christen geben, ahnte Toto und fand sehr schnell eine Mission.
Eine stramme Mutter Oberin sah Toto prüfend an, den wohlgenährten Toto, der sich sauber hielt, und nur die kommunistische Plastikkleidung verriet ein wenig Bedürftigkeit. Toto war kein Sozialschmarotzer, ein nützliches Wort, das damals erfunden wurde, er brauchte nur einen Ausgangspunkt für sein neues Leben. Er schaute wie eine traurige Katze, den konnte er gut, diesen Katzenblick, und schon gab es für die Frau kein Halten mehr. Die Oberin wirbelte durch den Raum, wühlte in Papieren, wählte Nummern und kam wenig später mit der Nachricht zu Toto, dass im Heim der christlichen Männer gerade durch einen Abgang, tiefer Seufzer, schwerer Blick, ein Zimmer frei geworden sei. Eine Adresse, ein U-Bahn-Plan mit Markierungen, ein kleines Begrüßungsgeld, und schon war Toto unterwegs.
Das Wohnheim lag im touristischen Rotlichtbezirk der Stadt, eine hässliche Straße, die dem Viertel seinen Namen gibt, bestanden von Spielhallen, Imbissbuden, traurigen Cafés.
Das Heim war nicht der Rede wert, für einen, der in Heimen seine ersten Jahre verbracht hatte, nahezu ein Spaziergang. Ein Hauswart mit geplatzten Adern an der Nase, eine Kapelle neben der Anmeldung, die Gebetszeiten müssen eingehalten werden, Alkoholverbot, und hier ist Ihr Zimmer. Bett, Kasten, Tisch, Blick auf die Straße, warum gibt es keine Bäume hier, eine funktionierende Heizung. Toto saß auf dem Bett, immer saß er in letzter Zeit auf unbekannten Betten, fast entwickelte er ein erotisches Verhältnis zu karierter Bettwäsche, wenn er denn erotische Gefühle gehabt hätte, was immer noch nicht der Fall war, er war frei von jeder Erregung, die nach Paarung verlangte. Vielleicht hoben sich die Hormone, die seine männlichen und weiblichen Organe produzierten, gegenseitig auf, vielleicht wurde da auch nichts hergestellt, und was ist ein Mensch ohne die Fähigkeit der Reproduktion eigentlich wert, wenn er nicht einmal ein Angestellter war.
Toto hatte sein neues Zimmer verlassen, er würde pünktlich zum Abendgebet zurück sein, eine kleine Gegenleistung für Gott, so viel Anstand muss sein.
Es war früher Abend, die Prostituierten stellten sich ein, am baumlosen Straßenrand, sie musterten Toto mit professionellem Interesse. Um sich zu stärken, das ist ja kein Spaziergang, so ein Geschlechtsverkehr, kehrten die Freier in Bars ein, in Souterrains, oder standen neben kleinen Kiosken, in deren Auslagen geschnittenes Mischbrot lag und Makrele in Tomatensoße, offenbar das Lieblingsessen von Prostituierten und ihren Kunden. Die Wege voller Zigarettenstummel, Bierdosen, Trostlosigkeit, das war zu viel Information, verwirrte den Kopf, der war doch schon voll von Polizeisirenen, Betrunkenenlallen, Musik aus Zuhälterautos und Touristenlauten. Die stolperten kichernd aus Reisebussen, paarweise, sie trugen beige Partnerlook-Trikotagen und würden richtig was erleben. Erst das Musical, praktisch im Viertel gelegen, und dann, wenn wir schon mal da sind, würden sie sagen und sich in der Gruppe Mut machen. Sie hatten Angst, die Bewohner des kapitalistischen Landes, überall, wo sie nicht wohnten, und sie würden zusammenrücken, lauter werden und eine Live-Show betreten. Die Frauen würden schamhaft zu Boden blicken, Sex auf der Bühne, also wirklich, sie zögen angewiderte Gesichter, weil sie meinten, das erwartet man von rechtschaffenen Frauen. Zu laut würden schlechte Scherze gemacht, und wie peinlich, Menschen beobachten zu müssen, die in scheinbarem Selbstverständnis
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