Vielen Dank für das Leben
geschlossenen Gittertür, ohne etwas zu begreifen. Das war eine dieser Situationen, die der moderne Mensch so oft in Filmen gesehen hat, dass sie ihm nicht real scheinen. In jenem Jahr waren achtzigtausend Menschen bei Naturkatastrophen ums Leben gekommen. Hitzewellen, Erdbeben im Iran, diverse Unwetter in Kombination mit den Terroranschlägen in Istanbul, Marokko, Irak und Saudi-Arabien, man gewöhnt sich dran, dass alles Bedrohliche nur im Fernseher existiert, der Betrachter ist unantastbar, überlegen, es gibt keine Verwandtschaft des Einzelnen mit der Welt.
Die Frauen um Toto wimmerten, einige hatten gerade eine Schlägerei hinter sich, andere lagen apathisch auf ihrem Fleck Boden. Ein überfüllter Eimer für die Ausscheidungen stand in der Ecke.
Toto ging immer davon aus, dass ihr jederzeit alles zustoßen konnte, ein Unfall, ein Krebs, ein Flugzeugabsturz, ein Erdbeben, und nun eben eine filmreife Verhaftung in Asien; irgendjemandem musste es doch passieren, wenn es auch im Fernsehen zu sehen war. Warum also nicht ihr.
Toto saß, blickte die Frauen an, immer noch dreißig, und versuchte ihre Gesichter zu lesen. Schwierig, sich in sie einzusehen, es gab wenig Parameter, die sie mit den Gesichtern der Weißen teilten, in denen man eine Landkarte des Lebens erkennen konnte, wenn man sich darum bemühte. Bei einigen Frauen war die Hoffnungslosigkeit klar zu sehen, sie hatten aufgehört, an Wunder zu glauben, ihnen war so viel Bosheit entgegengebracht worden, dass sie hart geworden waren und nur noch überleben wollten.
Toto schwitzte so stark, dass sie sich überlegte, ab wann ein Körper, der ja, wie man hört, aus 99% Wasser besteht, einfach weggeflossen wäre.
All das Gequatsche von Würde. Die würdevollen Menschen, ihrer Anzüge entledigt, hier auf den Boden gesetzt und dann geschaut, was da so übrigbleibt.
Neben Toto lag eine alte Frau, sie zitterte, vermutlich war sie krank. Toto rutschte zu ihr, legte ihr die Hand auf die Stirn, sie hatte hohes Fieber. Und Angst, die in aufgerissenen Augen stand. Toto murmelte leise und beruhigend, sie sang ein Lied und deckte die Frau mit ihrer Jacke zu.
In jener ersten Nacht fand Toto nur schwer Schlaf, aber es bestand ja auch keine Notwendigkeit, am nächsten Morgen munter zu sein, sie musste ja schließlich keinen Kran steuern.
Keine Kühlung, aber um sie war ein Mantel aus Schluchzen, Husten und Murmeln ausgebreitet worden. Gern hätte Toto die Frauen getröstet, ihnen gesagt, dass es hier so gut war wie überall, dass man es sich nett machen konnte, Geschichten erzählen, gymnastische Übungen machen oder sich festhalten konnte, aber es gebrach ihr an den sprachlichen Möglichkeiten. So schlich sie nur in der Dunkelheit zum Eimer und überlegte, nach welcher Rangordnung das System hier funktionierte und wer die Frauen waren, die in der Nähe der Latrine liegen mussten. Toto rollte sich wieder auf ihren Platz, und die Frage war, wie sie wieder hinauskam.
Es stand nicht zu erwarten, dass ihr Land sich über Gebühr um ihre Freilassung bemühen würde, sie war weder zur Reproduktion geeignet noch mit einem finanziell verwertbaren, interessanten Spezialwissen ausgestattet. Toto war Füllmaterial. Weiße Schaumstoffteile, die wichtige Waren in Paketen schützen. Sie war einer jener Menschen auf der Welt, die evolutionär von keinerlei Wert waren. Außer einigen Spezialisten, deren Job es war, das Chaos, das die menschliche Freude am Wachstum auf diesem alten Planeten angerichtet hatte, einzudämmen, war keiner von nationalem Interesse. Und sich eine Familie zuzulegen, nur damit jemand an ihrem Sarg weinen mochte, das war Toto bislang noch nicht eingefallen. Früher, als die Menschen keine Wahl hatten, besaßen sie eine Heimat. Einen Ort, den sie nie verließen, Menschen, die ihr Leben teilten, ob sie wollten oder nicht, vom Beginn bis zum Ende. Heute sucht sich, wer kann, seine Zugehörigkeiten, Interessensgemeinschaften, möblierte Appartements für Wanderarbeiter. Toto saß auf ihrem Platz. Die Frauen nahmen sie zur Kenntnis, keine sprach sie an, berührte sie, ihre zitternde Nachbarin hatte sich ein wenig entspannt, lächelte Toto an, und das waren die Momente, für die sie auf der Welt war.
Eine Badewanne wäre schön. Gewesen. Toto merkte, dass sie sich ausmalte, wie es wäre, heimzukommen, in eine nette Wohnung, die sie noch nicht besaß, einen Blick in die Bäume zu haben und in der Badewanne zu liegen. Das Badezimmer müsste ein Fenster haben und
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