Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
für mich.
Die Fotos waren sehr schön. Ich glaube, es waren die Bilder aus der Schublade von meiner Mutter. Ich kannte sie auf jeden Fall.
Die Blätter interessierten mich nicht. Die waren von einem Raimund Geers geschrieben. Den kannte ich nicht. Aber die Bücher fühlten sich ganz aufregend an. Darin war die Lebensgeschichte von meinem Vater aufgeschrieben! Endlich konnte ich alles über ihn erfahren! Endlich konnte ich so werden wie er!
Ich drückte die Bücher an mein Herz und weinte.
Ich war sicher, dass Bob etwas damit zu tun hatte. Ihm hatte ich immer wieder gesagt, wie sehr ich mich danach sehnte, etwas über meinen Vater zu erfahren. Doch Mr. Mintz sagte einmal zu mir, dass ich nicht wie mein Vater werde sollte. Was wusste der schon?
Es war also keine gute Idee, diese Bücher bei Mr. Mintz zu lassen. Auch die Fotos nicht. Den Bericht von Mr. Geers konnte er gerne behalten.
Also beschloss ich, die Bücher und die Fotos mit in mein Zimmer zu nehmen.
Ich hörte Schritte draußen in der Halle und bekam Angst. Wenn jetzt Mr. Mintz aus dem Urlaub war und mich mit den Büchern in seinem Zimmer erwischte, wäre alles vorbei.
Ich räumte schnell den Ordner wieder ins Regal und legte die Blätter in das Paket. Das schob ich hinter die lange Gardine am Fenster. Die Fotos legte ich in eins der Bücher und die schob ich in meine Hose.
Jemand schloss die Tür auf. Ein Betreuer kam herein und sah mich erstaunt an.
„Was machst du hier?“, fragte er böse.
„Ich wollte zu Mr. Mintz. Der war nicht da. Deshalb habe ich im Sessel auf ihn gewartet und bin eingeschlafen. Dann hat mich wohl einer eingeschlossen. Ich warte schon viele Stunden, dass mich jemand rausholt.“
Na, das klappte doch hervorragend mit der Erklärung!
Der Betreuer legte ein paar Briefe, die er bei sich hatte, auf den Schreibtisch und zog mich am Handgelenk aus dem Zimmer. „Warum hast du nicht gerufen, Gelton?!“, schrie er dabei.
„Hab ich doch, Sir, aber es hat mich keiner gehört.“
„Und das soll ich dir glauben?“
„Ja, Sir, was denn sonst?“
Das hätte ich nicht sagen sollen, denn er schmiss mich in den Bunker.
Ich bekam riesige Angst, denn Bob war nicht da und Mr. Mintz auch nicht. Wer sollte mich hier wieder rausholen?
Ich drückte die Bücher an mein Herz und wartete.
Irgendwie hatte sich meine Traurigkeit verändert. Sie war tiefer geworden. Nach diesem Vorfall im Bunker spürte ich es zum ersten Mal. Früher war meine Traurigkeit eine Art Langeweile gewesen, denn ich wusste, es würde alles wieder gut werden. Aber jetzt war meine Traurigkeit eine richtige Angst geworden. Irgendetwas sagte mir, es würde nie wieder weg gehen. Ist es das Gefühl eines Erwachsenen, der immer glaubt, jederzeit würde die Welt zusammenbrechen? Wo war das frühere Gefühl, dass die Welt schon nicht zusammenbrechen würde? Es war weg. Übrig blieb eine kalte, schmerzende Angst.
Der Hausmeister holte mich viele Stunden später wieder aus dem Bunker und sagte: „Geh mal in die Mensa. Die haben Essen für dich weggestellt.“
Ich bedankte mich und nickte. Aber ich konnte nicht in die Mensa gehen, denn ich hatte doch die beiden Bücher in meiner Hose. Die würde jeder sehen. Also rannte ich erst in mein Zimmer und schloss mich ein. Ich legte die Bücher auf mein Bett und sah sie an. Jetzt kroch diese neue Angst wieder in mir hoch. Wie ein Tintenfisch. Vielleicht waren die Bücher gar nicht so gut für mich. Dieser Zeitungsartikel über das Mörderbaby war irgendwie unglücklich, fand ich. Mein Vater war vielleicht gar nicht so ein Mann, wie ich gerne werden wollte. Viele Leute hatten mich oft so komisch behandelt. Und der Klügste bin ich auch nicht. Vielleicht in der Schule, aber nicht im Leben. Obwohl, in der Schule bin ich ziemlich schlecht geworden. Nichts rutscht mehr wie Honig hinunter. Zu viele Dinge haben mich vom Lernen abgelenkt. Ich hatte so vieles vom Leben nachzuholen, das glaubt mir keiner.
Doch, Bob glaubt es. Bob ist der beste Kerl, den ich jemals kennengelernt habe.
Ich vergaß in der Mensa mein Essen zu holen und überlegte, ob ich die Bücher lesen sollte. Diese Angst ließ mich nicht los. War das jetzt eine gute Angst oder eine schlechte? Manchmal ist Angst gut. Nämlich dann, wenn sie dich von etwas abhält, was gefährlich für dich ist. Aber manchmal ist die Angst auch schlecht. Nämlich dann, wenn sie dich treibt, etwas gefährliches zu tun. Ich bin eindeutig der zweite Typ. Jetzt kann ich sagen: Ich bin eindeutig ein Gelton. Ich
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