Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
und Fleischeslust« 18 gebraucht. Doch »wenn Gott einem der Seinigen eine Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei. Und mithin hat der gläubige Christ diesem Rufe zu folgen, indem er sie sich zunutze macht.« 19 Im Puritanismus besteht Profitpflicht. 20
Die psychologische Disposition des Calvinisten ist eine tief sitzende Angst vor Verdammnis, ein Gefühl der eigenen Wertlosigkeit: Liebe hat er eigentlich nicht verdient, denn da er in unablässiger Selbsterforschung seine »abscheulichen Laster« kennt, weiß er, wie nichtswürdig er im Grunde ist. Er hat »nicht das geringste dem eigenen Wert zu danken«. 21 Entlastung schafft vor allem unermüdliche Arbeit, putzen, oder ein Geschäft aufbauen. 22 Er ist nur etwas wert, wenn er etwas leistet. Mit schlechtem Gewissen ob seiner Sünden und Versäumnisse wacht der Calvinist auf, und mit schlechtem Gewissen geht er zu Bett. Ein gutes Leben darf er nicht führen.
»In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit«, schreibt Weber, hinterließ diese Lehre »ein Gefühl der inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums.« 23 Sie machte die Menschen krank. Die tiefe Depression der Calvinisten fiel natürlich damals schon auf. Der Schriftsteller Robert Burton 24 führte die im England des 17. Jahrhunderts grassierende Melancholie auf den Calvinismus zurück. Vieles daran erinnert an heutige Burn-out-Erkrankungen, vor allem das Symptom der Überforderung: Das Selbst ist erschöpft, es kann nicht mehr, weil es den Anforderungen an sich selbst nicht gerecht wird.
Die welthistorische Leistung der »protestantischen Ethik« besteht darin, dass die gesamte Gesellschaft die Arbeitsbereitschaft derart als moralischen Wert verinnerlicht hat, dass Arbeit für jeden zunächst zur Pflicht, später sogar zum persönlichen Bedürfnis wird. So fern uns Calvins Gnadenlehre heute auch ist, so eigentümlich aktuell erscheint uns die von ihr geprägte Mentalität: das Nutzenkalkül, das Denken in Renditen und Opportunitätskosten, die Maxime »Zeit ist Geld«, die Zweckrationalität, das methodische Durchorganisieren des Lebens.
»Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es sein«, sagt Weber. 25
Wir sind Berufsmenschen durch und durch.
Der angelsächsische Kapitalismus und Adam Smith als sein Vordenker unterstellen einen Menschentyp als »natürlich«, der erst jahrhundertelang durch religiöse Erziehung, Zuchthäuser und Gesetzgebung zur Arbeitspflicht herangebildet werden musste. In einem langen Prozess der Disziplinierung, der einer machtvollen »Veranstaltung zur Züchtung kapitalistischer Individuen« 26 gleichkam, entwickelte sich der heutige Berufsmensch. Max Weber widersprach Adam Smiths Behauptung, jeder Mensch wolle natürlicherweise arbeiten, um seinen Wohlstand zu mehren: »Kein Mensch lebt, um zu arbeiten, sondern tut nur so viel, wie er muss.« Ich betone die Herkunftsgeschichte unserer Arbeitswut deshalb so sehr, damit wir aufhören zu glauben, dass ein 14-stündiger Arbeitstag vorbildlich sei, dass Arbeit immerzu Spaß machen und Sinn stiften müsse. Das sind alles im welthistorischen Vergleich völlig abstruse Vorstellungen. Wenn wir Abstand vom Wachstumswahn bekommen und uns der Beschleunigungsspirale entziehen wollen, ist es gut zu erkennen, dass uns nicht irgendwelche Marktgesetze zum Maximieren und Daueroptimieren zwingen, sondern dass dies ein puritanischer Imperativ ist, der unsere Mentalität tief geprägt hat, und dass es diese Mentalität ist, die Entlohnungssysteme und Profitmaximierungspostulate schafft. Dieser puritanische Geist wollte und will bis heute definitiv nicht, dass der Mensch zufrieden und ausgeglichen ist. Er wollte und will ihn rastlos, arbeitsbesessen, genussunfähig und moralisch korrekt angepasst. 27
Das in der Ökonomie gültige Modell des Homo oeconomicus behauptet, dass der Mensch auf finanzielle Anreize begeistert reagiere und dadurch steuerbar sei. Jeder Mensch sei ein Egoist und wolle deshalb seinen Profit maximieren.
Wie weltfremd das ist, illustriert Weber an den Bauern im 19. Jahrhundert. Um ein Maximum an Arbeitsleistung herauszuholen, boten Unternehmer damals den Landarbeitern einen Akkordlohn an. Wenn die Ernte besonders dringend einzuholen war, erhöhten sie den Arbeitern die Akkordlöhne. Doch der Mann, der zum Beispiel für 3 Mark 3 Morgen Getreide gemäht hatte, mähte nach Erhöhung nicht, wie erhofft wurde, mehr, sondern hörte mit der Arbeit in dem Moment auf, als er seinen üblichen Verdienst von 3 Mark
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