Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
dem Rückzug.
Die Menschen fanden die Drogenexzesse und das romantische Aussteigertum der Gegenkultur zwar seltsam, aber ein bisschen mehr easy konnte das Leben schon werden. Freie Liebe am Strand von Valparaiso, wer würde dazu Nein sagen? Gerade angesichts dieser selbstbestimmteren Lebensweise der 1960er Jahre ließ die Leistungsbereitschaft in den Betrieben nach. Vor allem die Leistung aus Pflichtgefühl, die dem ursprünglichen Bild des Berufsmenschen am meisten entsprach, geriet in die Krise. Es kam zu massenhaften inneren Kündigungen von Mitarbeitern, weil sie unzufrieden mit dem Befehlston und den Selbstentfaltungsmöglichkeiten in den Unternehmen waren. Die Mitarbeiter wollten mehr Eigenverantwortung und Selbstständigkeit.
Die Postmaterialisten entpuppen sich als ziemlich materialistisch.
Die 68er waren zunächst begeistert, das System schien ins Wanken zu geraten. Der amerikanische Wertewandelforscher Ronald Inglehart sagte Ende der 1960er Jahre gar eine »silent revolution« 34 vorher, eine leise Revolution, in der sich unsere Werte langsam, aber fundamental verändern würden – und zwar zum Besseren. Das 21. Jahrhundert werde den Postmaterialisten gehören, die, statt Luxusgüter und Statussymbole anzuhäufen, lieber ihre Persönlichkeit entfalteten. Die Postmaterialisten würden eher jobben, als zu hart zu arbeiten, und die Natur sei ihnen wichtiger als Aktienkurse.
Inglehart wollte mit zahlreichen Werte-Umfragen beweisen, dass die leistungs- und einkommensbezogene »materialistische« Haltung der Nachkriegsgeneration durch »postmaterielle« Selbstentfaltungswerte der nachwachsenden Generation abgelöst werde.
Die Finanzkrise 2008 holte Ingleharts Träume vom postmateriellen Paradies auf den Boden der Tatsachen zurück: Denn ausgerechnet jene Generation, die in Wohlstand und Sicherheit groß geworden war und nach Inglehart eigentlich kontemplative Bedürfnisse hätte ausbilden sollen, gab sich in den Jahren vor der Finanzkrise 2008 einem einzigartigen Konsumrausch hin. Die vermeintlichen Postmaterialisten entpuppten sich als ziemlich materialistisch.
Es waren Millionen junger amerikanischer Mittelschichtfamilien, die seit Ende der 90er Jahre anfingen, ihre wachsenden Immobilienvermögen mit immer neuen Konsumkrediten zu beleihen, um davon noch größere Häuser, noch teurere Autos und noch exotischere Reisen zu kaufen. Bis die Immobilienblase platzte. Diejenigen, die das große Finanzrad drehten, waren überwiegend junge, smarte Investmentbanker, die von der Sozialisation her ideale Postmaterialisten hätten sein müssen. Aber ihnen stand mehr der Sinn nach hohen Boni. Sie wuchsen in wohlbehüteten Familien auf. Auf dem College lernten sie Toleranz und Solidarität. Sie gingen in Yogakurse und tranken laktosefreien Latte macchiato, stellten Buddha-Figuren im Wohnzimmer auf und betrachteten sich als Weltbürger. Verantwortung für das große Ganze und fürs globale Finanzsystem übernahmen sie trotzdem nicht. Inglehart hatte außerdem vorhergesagt, dass die Leistungsgesellschaft langsam, aber sicher erodiere: Postmaterialisten seien »Unterleister«, weil sie bewusst weniger leisteten, als sie könnten – schließlich hätten sie andere Präferenzen, als ständig das Bruttosozialprodukt zu erhöhen. Als Folge prophezeite Inglehart ein sinkendes Interesse an Wachstum und Reichtum.
In der Realität kam es genau umgekehrt: Unterleister blieben die Ausnahme. Der Arbeitsstress stieg, die Wochen- und Lebensarbeitszeit dito. Das protestantische Arbeitsethos ist ungebrochen robust, die McKinsey-Kultur sorgt für Effizienz, die Blackberry- und Online-Kultur für ständige Erreichbarkeit. Das Denken in Kategorien der Rendite, der Performance und der Leistungsanreize erreichte in der Finanzkrise einen traurigen Höhepunkt – ausgerechnet in jenen Alterskohorten, die laut Inglehart eigentlich zu den Unterleistern gehören müssten. In der aktuellen deutschen Shell-Jugendstudie 35 erzielen Werte wie Lebensstandard und Leistungswille hohe Zustimmung, allerdings darf auch die Lebensfreude nicht zu kurz kommen. Die junge Generation arbeitet heute härter als ihre Eltern, schon der Leistungsdruck im Studium ist mit dem vor fünfzig Jahren nicht zu vergleichen. Die deutsche Wirtschaft ist nicht untergegangen. Die von Inglehart und Noelle-Neumann vorhergesagte Erosion der Leistungsbereitschaft ist nicht eingetreten.
Wir alle sind Künstler.
Wie war das möglich? Wie konnte sich die Leistungsbereitschaft trotz
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