Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Gleichgewicht. In einem gelungenen Leben reift die persönliche Identität, sie erfindet sich nicht ständig neu. Genuss wird kultiviert, was Kennerschaft voraussetzt, also Überzeugungen und Standpunkte, die unabhängig davon sind, wie viel produziert oder konsumiert wird. Ein Übermaß an Reichtum ist genauso schädlich wie ein Mangel an Wohlstand. Glück bedeutet, ein gutes Leben führen zu können. Es ist nur zu einem geringen Teil steuerbar, denn das Schicksal kann einem wichtige Glücksgüter wie Vermögen, Gesundheit oder Kinder vorenthalten. Es hängt auch an der eigenen Persönlichkeit, an der Fähigkeit zur Kontemplation. Auch diese ist nur in Grenzen veränderbar.
Das gute Leben ist weder ein Aufruf zur Askese noch ein Jammern über Leute, die Spaß haben. Beides wäre ganz falsch. Ein gutes Leben schließt zwar auch oberflächliche Genüsse nicht aus, aber es zieht verfeinerte Genüsse vor. Es fordert lediglich Klugheit ein: Wir sind auf Dauer mehr befriedigt, wenn wir die Dinge nicht ausreizen, sondern maßhalten. Das Glück ist nicht verfügbar. Wenn man ihm nachjagt, verfehlt man es, und die Maximierung aller Glücksgüter würde uns kein bisschen glücklicher machen. Die Überbietungslogik, die den heutigen Konsumismus treibt, ist der direkte Weg in die Unzufriedenheit. Denn wenn ich erst einmal damit beginne, meine Persönlichkeit durch den Wechsel von coolen Designs, Stilen und Images oder durch die Auswahl eines gerade passenden Habitus ständig neu zu erfinden, tappe ich in die Sättigungsfalle: Schon morgen ist das Neue veraltet und normal. Wer will schon normal sein? Also muss es ständig überboten werden. Es gibt kein Ende der Optionen, und je schneller die anderen sich drehen, desto schneller muss ich mich mitdrehen. Das macht Stress: Sind wir noch up to date, haben wir die richtige Identität gewählt, oder sollten wir den Musikgeschmack, den Lieblingsschauspieler, die Sportart wechseln? Darf man noch Fleisch essen und Bagels, oder ist es cooler, auf Sushi und Rohkost umzusteigen? Der Buddhakopf auf dem Sideboard signalisiert multikulturelle Offenheit, die gut mit dem antiken Bauernschrank korrespondiert, Opa war doch Bauer. Aber morgen muss die Terrasse vergrößert werden, denn Urban Gardening wollten wir doch schon immer mal ausprobieren. 5
Nutzenmaximierung und Überbietung sind das Gegenteil von Balance und Maß. Der Konsumismus ist auf Nutzenmaximierung und Steigerung angewiesen, sonst implodiert er, und der Traum vom ewigen Fortschritt der Innovationen, neuen Möglichkeiten und der schrankenlosen Selbstentfaltung platzt. Der Konsum befindet sich, ähnlich wie die Arbeitsproduktivität, in einer ständigen Steigerungsspirale. Wo soll das enden? Lediglich die Ökologen fragen, ob die Ökosysteme ein Konsumniveau für neun Milliarden Menschen auf der Höhe der deutschen Oberschicht aushalten. Nachhaltigkeit ist aber etwas anderes als eine Diskussion darüber, wie wir eigentlich leben wollen. Diese Frage ist merkwürdig tabu. Wer sie stellt, beeilt sich, gleich zu versichern, er wolle um Gottes willen nicht bestimmte Lebensentwürfe kritisieren oder die freie Entfaltung der Persönlichkeit behindern. Die Zeitungen sind voll von Artikeln, die beispielsweise den hohen Fleischkonsum oder billige T-Shirts kritisieren, weil damit Ressourcen vergeudet oder Kinder in Indien ausgebeutet werden.
Man hört aber kaum, dass Billigfleisch einfach schlecht schmeckt und es klüger wäre, seltener, aber dafür besseres Fleisch zu essen, und dass hochwertige Kleidung einfach besser aussieht, länger hält und in Form bleibt. Sämtliche Produkte lassen sich sowohl nach ihrer Nachhaltigkeit befragen als auch nach ihrer Eignung für ein gutes Leben. Die Antworten werden da je nach Geschmack und Lebensentwurf anders ausfallen, aber gerade das ist doch das Spannende. Warum kauft einer ein Smartphone, von dessen zig Funktionen er nur fünf Prozent nutzt? Warum reisen wir drei Tage nach New York oder zwei zum Skifahren nach Zermatt? Die Antworten sind für die eigene Persönlichkeitserkenntnis erhellender, als man glaubt. Wovor laufen wir davon? Wem wollen wir etwas beweisen? Drücken wir eine Sehnsucht aus oder kompensieren wir ein uneingestandenes Gefühl? Weshalb diskutieren wir so selten darüber, wie wir unser Einkommen überhaupt verwenden: Warum wir nicht mehr Geld für hochwertigen Konsum ausgeben oder mehr für Sport, Musik, Kultur, und dafür Dinge aufgeben, die sich als wertlos herausgestellt
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