Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
Vom Netzwerk:
ab, es hatte
ein bisschen Marmelade abbekommen. Der Junge sah stumm zu, dann griff er mit
einer schnellen Bewegung nach dem Auto und versuchte es Michaels Hand zu
entreißen, aber Michael hielt fest, denn er wusste, der Junge wollte es nur
wieder in den Müll werfen.
    Bei diesem Gezerre wurden sie von Emmi Buchleitner gesehen, die an
diesem Tag die Mittagsaufsicht hatte und sich fragte, wo die beiden so lange
blieben. Sie war mit ein paar Schritten bei ihnen und fragte: »Was ist hier
los?«
    Â»Das ist mein Auto«, sagte der Junge.
    Â»Aber du willst es nicht«, sagte Michael.
    Das klang für Frau Buchleitner nicht wie ein respektables Argument.
Sie befahl Michael, das Auto loszulassen, aber er hielt fest und sagte: »Nein«,
worauf sie ihm eine Ohrfeige gab, die sie sofort bereute. Mein Gott, dachte
sie, was ist denn mit mir los? Ich kann doch den Jungen nicht einfach so
schlagen? Sie war entsetzt über sich selbst und wusste nicht, was tun.
    Michael ließ das Auto los (der andere Junge konnte es jetzt nicht in
den Müll werfen) und sagte zu Emmi Buchleitner: »Das macht nichts. Nicht
schlimm.«
    Nun war sie völlig verwirrt. War das Hohn? Arroganz? Sie schimpfte
mit beiden und scheuchte sie in den Saal zurück, wo der Junge den Laster neben
das Tischbein auf den Boden stellte und bis zum Ende des Essens ignorierte.
    Am Abend kam er zu Michael ins Zimmer und gab ihm den
Sattelschlepper. »Ist ja wirklich schade drum«, sagte er, »aber ich will den
nicht.«
    Der Junge war Thomas. Von da an waren sie Freunde.
    Und Emmi, die nicht einschlafen konnte vor lauter schlechtem
Gewissen, kam irgendwann zu dem Schluss, dass dieser unauffällige und höfliche
Michael sie nicht hatte verspotten, sondern wirklich entlasten wollen. An dem
Jungen war etwas Besonderes. Sie würde ein Auge auf ihn haben.
    ~
    Der kleine Sattelschlepper stand auf dem Fensterbrett in
der Küche. Zusammen mit einer Mandoline, die Michael viel später von Emmi
geschenkt bekommen hatte, waren diese beiden Erinnerungsstücke die einzigen aus
seiner Kindheit. Kein Buch, kein Spielzeug, keine Schallplatte, nichts von
damals hatte seine Umzüge und Neuanfänge überstanden, nur die Mandoline, auf
der er immer noch gelegentlich klimperte, und der Sattelschlepper, der
inzwischen abgestoßen und armselig aussah und dennoch eine Art miniaturisierter
Monumentalität ausstrahlte – irgendetwas von der Größe, die er dem kindlichen
Auge zumindest symbolisiert hatte, war noch da.
    Michael ging nach draußen und in Richtung Campo Santa Margherita.
Die Wolken hatten sich größtenteils verzogen, nur noch wenige einzelne waren zu
sehen, indirekt beleuchtet vom Mond, der sich noch irgendwo hinter Castello und
Lido verbarg.
    Es war Viertel nach eins, die Stadt menschenleer, niemand torkelte
mehr auf der Suche nach seinem Hotelbett durch die Gassen, nur noch die Straßenlaternen
und vereinzelte Schaufenster waren erleuchtet, das letzte Boot nach Ferrovia
hatte längst abgelegt und alle Kellner, Barkeeper und Köche auf den Heimweg Richtung
Mestre befördert – nach zwölf Uhr war Venedig wie ausgestorben und gehörte
Michael allein. Nur hier und da sah er ein noch helles Fenster, hinter dem eine
Nachteule studieren, lesen oder E-Mails schreiben mochte. Er ging bis zum Campo
San Barnaba und von dort über Zattere an der Stazione Marittima vorbei zurück
nach Hause.
    In den Beinen spürte Michael, dass er eigentlich todmüde war, es war
ein langer Tag gewesen, aber in seinem Kopf schwangen die Bilder ineinander:
der trunkene Thomas, der baggernde Bernd – für Wagner fiel ihm keine
Alliteration ein, weltläufig war der nicht, wehmütig auch nicht, und auf
warmherzig hätte sich Michael auch nicht direkt versteift –, für Erin allerdings
war es ein Leichtes, er hatte Auswahl: die Elegante, die Ersehnte, die
Erhabene.
    ~
    Ihr nach mehr als zwanzig Jahren wiederzubegegnen, mit ihr
im selben Auto zu fahren, ein paar Worte zu wechseln, sie zur Begrüßung und zum
Abschied zu küssen – das alles war so entspannt und selbstverständlich gewesen,
als wäre sie wirklich nur eine alte flüchtige Bekannte und nicht die Frau, auf
die er sein ganzes Leben ausgerichtet hatte, für die er arbeitete, die seine
Phantasie ausfüllte, die in dieser Phantasie durch etliche Verwandlungen
gegangen war – von der Geliebten, Erträumten zu

Weitere Kostenlose Bücher