Vier Arten, die Liebe zu vergessen
so und nur so haben wollte. Auf eine wirkliche Liebe zu
spekulieren war dumm, dafür alles zu riskieren war dumm, das Scheitern war das
Nächstliegende, und dann wäre womöglich die Verbindung zerstört, würde sie
seine Songs nicht mehr singen wollen, würde er für sie keine mehr schreiben
wollen â diese ganze Konstruktion war zwar verrückt, aber nur so verrückt
konnte sie auch gelingen. Seine Beziehung zu Erin vertrug die Wirklichkeit
nicht. Sie würde von Alltag, Prioritäten und Zufällen zerfressen werden. So,
wie sie war, war sie perfekt und unzerstörbar. Und hochgestochen und überdreht.
~
In Serafinas Küche brannte Licht. Vermutlich hatte sie
wieder einen ihrer nächtlichen Schokoladenfressanfälle, die sie anderntags
bereuen und mit verlängerten Fitnessqualen büÃen würde. Dann lief es wohl
gerade wieder gut mit ihrem Mann. Diese Anfälle kamen zuverlässig nach dem Sex.
Minus streckte sich, als er die Tür hinter sich schloss, sie machte
einen Buckel und legte sich dann wieder hin, den Kopf auf die Vorderpfoten und
den Schwanz um die Hinterbeine gelegt. Sie würde später zu ihm ins Schlafzimmer
kommen und sich dort auf dem Sessel einrichten. Das tat sie immer. Sie wartete
auf ihn in der Halle und folgte ihm dann irgendwann, wohin er ging.
~
Meist wachte er morgens vom Tuckern der Müllboote auf,
aber diesmal war es das Geräusch eines Balls, der immer wieder auf den Boden
geschlagen wurde und dann, in längeren Intervallen, an die Wand. Die verstockte
Aggressivität dieses Geräuschs hatte etwas zutiefst Einsames und Bedrückendes.
Der Sohn aus erster Ehe von Serafinas Mann war nebenan zu Besuch und knallte
seinen pubertären Frust in ständiger Wiederholung auf den Boden, auf den Boden,
auf den Boden, an die Wand.
Hoffentlich raffte sich sein Vater bald auf, die hoffentlich
versprochene Bootsfahrt anzugehen oder sonst irgendwas mit dem Jungen zu
unternehmen â dieses Geräusch war enervierend, und Michael würde es nicht lange
ertragen.
»Viens, Luc«, hörte er Serafinas rettende Stimme, »petit déjeuner.«
Das Geknalle hörte auf.
~
Im Internat sind alle Kinder unglücklich. Zumindest eine
Zeit lang, am Anfang. Und die Unglücklichsten erkennen einander und werden
entweder schlimmste Feinde oder beste Freunde. Thomas und Michael hatten nicht
lang gebraucht, um beste Freunde zu werden, und es bald auch geschafft, im
selben Sechserzimmer zu schlafen.
Nicht viel länger hatte es gedauert, bis sie ihre schlimmsten Feinde
ausgemacht hatten: Bernd und Wagner. Bernd war so etwas wie das Gegenteil von
Thomas. Wenn der ein Päckchen bekam, schob er sofort den Inhalt über den Tisch,
und jeder durfte sich nehmen, was ihm gefiel, er fasste die Geschenke von zu
Hause nur an, um sie weiterzureichen. Bei Bernd dagegen ging sofort der Handel
los â er machte aus jeder Sendung eine Versteigerung. Das eingenommene Geld
hortete er für Kinobesuche oder den Kauf von Comics oder Eis.
Und Wagner boxte jeden Jungen, der es wagte, ihn bei seinem
Vornamen, nämlich Detlef, anzusprechen, so schmerzhaft ins Kreuz, dass er sich
diesen Spaà nicht ein zweites Mal erlauben würde. Die Mädchen kniff er so
heftig in den Oberarm, dass sie tagelang blaue Flecken mit sich herumtrugen.
Dass ihm das immer wieder Strafen einbrachte, störte ihn nicht weiter. Beim
Spielen warf er die Bälle gezielt auf die Gesichter seiner Mitspieler und
verbreitete mit seinem knurrigen und mürrischen Wesen schlechte Laune und gern
auch Furcht, wo immer er auftauchte. In diesem Alter kann man Respekt nicht von
Angst unterscheiden. Manche können das als Erwachsene noch nicht. Man muss nur
die Texte von Rapmusik anhören, um das zu begreifen.
Michael und Thomas hatten schnell erkannt, dass diese beiden Jungs
unterste Schublade waren, und irgendwann fiel es Bernd auf, dass, immer wenn er
nach einer Tafel Schokolade aus einem von Thomasâ Päckchen greifen wollte (um
sie später zu verkaufen), Michael ihm mit einem schnellen Griff zuvorkam (um
sie später zu verschenken â Hauptsache, der Krämer Bernd bekam sie nicht). Das
führte irgendwann zur fälligen Rauferei, die Bernds Verbündeter Wagner
natürlich für die beiden entschied und zu einer demütigenden und schmerzhaften
Niederlage für Michael und Thomas machte.
So wichtig es ist, einen Freund zu haben, man braucht auch
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