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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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war ihm Heimlichtuerei zur zweiten Natur geworden. Halbwegs offen und
ehrlich war er zuletzt mit Emmi und seinen Freunden Thomas, Bernd und Wagner umgegangen.
    ~
    Es war nicht so, dass er den Wortlaut fremder Gedanken in
seinem Inneren gehört oder gar auf imaginärer Fläche geschrieben gesehen hätte,
es war eher eine Art Einfühlung: Er wusste, was die Leute wollten.
    Angefangen hatte das bei seiner Stiefmutter. Als er sie das erste
Mal sah, traf es ihn wie ein Schlag: Sie würde nie mit ihm auskommen, sie
glaubte, dass er sie niemals gern haben konnte, und
wünschte sich, ihn loszuwerden, ohne seinen Vater gegen sich aufzubringen.
Michael fürchtete sich zu dieser Zeit vor dem Ende der Ferien, weil er glaubte,
alle müssten ihn hassen – er hatte einen gemeinschaftlich begangenen Streich
gestanden und galt seither als Petze –, deshalb bot er noch am selben Tag an,
ins Internat zu gehen, und die Erleichterung im Gesicht dieser Frau war so
deutlich zu sehen gewesen, dass sogar sein Vater die Stirn gerunzelt und ein
Mann-zu-Mann-Gespräch anzuzetteln versucht hatte.
    Dieses Gespräch verlief halbherzig, denn Michael, der das schlechte
Gewissen und die Verliebtheit seines Vaters erkannte, sagte nur, was nötig war,
um die Sache zu beschleunigen. Sein Vater, ebenfalls froh, ihn los zu sein,
fühlte sich überfordert mit Beruf und Erziehung und hatte sich der Illusion
hingegeben, die neue Frau und sein Sohn würden ein Herz und eine Seele werden.
So war es aber nicht gekommen, und er, ein Mann der Lösungen, nicht des Wälzens
von Problemen, stimmte zu und war seinem Sohn insgeheim dankbar für die
rettende Idee.
    Und Michael trainierte seine neu erkannte Fähigkeit. Er tat, was
andere sich von ihm erhofften, und ließ bleiben, was sie von ihm befürchteten.
Er blamierte die anderen nicht, wenn er sah, dass sie feige, kleinlich oder
egoistisch dachten, er zog nur seine Schlüsse und handelte danach. Natürlich
setzte er dieses Talent für sich selbst ein, er sorgte dafür, dass man ihn
mochte, er verfolgte seine eigenen Ziele, suchte den eigenen Vorteil, aber aus
Versehen und wie nebenbei wurde er dadurch auch zu einem Menschen, in dessen
Nähe sich andere geschont und verstanden fühlten.
    ~
    Er war vierzehn, als er ins Internat kam, und noch klein
und kindlich – die Pubertät hatte noch keine Verheerungen in seinem Gemüt
angerichtet. Es war seine eigene Entscheidung gewesen, und doch fühlte er sich
todunglücklich unter diesen vielen fremden Kindern und Lehrern, blieb stumm,
schaute verwirrt auf die neue Umgebung und hatte Heimweh, aber keine Heimat
mehr. Mit dieser Frau im Haus und einem Vater, der ihn mir nichts, dir nichts
gegen sie eingetauscht hatte, war seinem früheren Zuhause alles an Vertrautheit
abhandengekommen, wonach er sich hätte sehnen können. Er gehörte nirgendwo mehr
hin und versteckte sich in jedem freien Augenblick auf dem Klo oder unter
seiner Bettdecke.
    Ein Schüler, der ebenfalls neu war und Geburtstag hatte, bekam beim
Mittagessen ein Paket überreicht. Darin war Schokolade, die er sofort auf dem
ganzen Tisch verteilte – in Sekunden war sie in den Taschen der Umsitzenden
verschwunden –, dann kam noch ein Buch über Navajo Sandpainting zum Vorschein,
das er achtlos beiseitelegte, und ein Matchbox-Sattelschlepper, den er einen
Moment lang ansah, und dann bat er direkt darum, aufs Klo zu dürfen. Er nahm
den Sattelschlepper mit.
    Michael wusste, dass der Junge das Geschenk wegwerfen wollte, obwohl
es ihm gefiel – er hatte sich früher vielleicht nach genau diesem Laster
gesehnt, aber jetzt war es nur noch Hohn, Abscheu oder Scham, was er bei dem Anblick
empfand. Man versuchte sich freizukaufen von der Schuld, ihn nicht bei sich
haben zu wollen.
    Michael bat ebenfalls darum, aufs Klo zu dürfen, und suchte nach dem
Jungen. Der stand bei der hintersten Mülltonne, deren Deckel er geöffnet hatte,
um den Sattelschlepper mit Wucht hineinzudonnern. Als Michael dort ankam, sah
der Junge ihn erstaunt an, sagte aber nichts, sah nur zu, wie Michael den
Deckel wieder aufklappte, halb in der riesigen Tonne verschwand und das Ding
herausangelte.
    Â»Ich heb ihn für dich auf«, sagte Michael. »Ich klau ihn nicht. Er
gehört dir. Du kriegst ihn, wenn du ihn nicht mehr wegschmeißen willst.«
    Der Junge sah ihn nur an.
    Michael putzte das Spielzeugauto an seinem Hosenbein

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