Vier Arten, die Liebe zu vergessen
das Gefühl dafür nicht
mehr verlieren. Ein rudimentäres Arrangement und eine Bridge konnte er später
noch austüfteln. Es war ihm sogar lieber, wenn einige Zeit verging zwischen
erster Idee und eventuellen Raffinessen â wenn der Song ein paar Tage in seinem
Kopf hin und her schwingen konnte, würde er sich entwickeln. Früher hatte er
wie im Fieber so lange gearbeitet, bis eine vorführbare Version fertig war,
mittlerweile lieà er sich Zeit zwischen den Schritten. Das kam der Qualität der
Songs zugute.
»Vieni«, sagte er zu Minus, »mangiamo.«
Die Katze lief ihm voraus nach unten in die Küche, bevor er den
Computer heruntergefahren und die Anlage ausgeschaltet hatte.
~
Minus schlief auf der Fensterbank, als Michael sich den
Trüffel über die fertigen Linguine hobelte und die erste Gabel nahm. Das Lied
klang in seinem Kopf, er hörte es mit Erins Stimme, so wie jedes, das er in all
den Jahren geschrieben hatte.
Er lächelte beim Gedanken an die Begegnung mit ihr. Sie hatte den
flüchtigen Bekannten in ihm gesehen, den Besucher eines Auftritts in München
vor vielen Jahren, und keine Ahnung davon gehabt, dass er der Komponist war,
der seit langer Zeit diese Songs für sie schrieb, sein Pseudonym niemals
gelüftet und sich niemals zu einem Treffen mit ihr bereitgefunden hatte.
~
Damals in München war Michael schon auf dem Heimweg,
gleich nachdem er sich von Erin und Emmi verabschiedet hatte, ein Lied
eingefallen, das er zu Hause auf der Gitarre so lange spielte und vor sich
hinsang, bis es stand. Noch in derselben Nacht waren die drei Strophen fertig,
die es brauchte, und am nächsten Tag hatte er alles auf Notenpapier
festgehalten.
In den nächsten Wochen ging das so weiter. Er schrieb einen Song
nach dem anderen, alle in Englisch, notierte sie auf Papier mit einfacher
Gitarren- oder Klavierbegleitung und legte sie auf einen Stapel, den er eines
Tages Erin vorlegen wollte. Er komponierte wie im Rausch, magerte ab, rauchte
Kette und trank abends nach getaner Arbeit zu viel, damit er überhaupt
einschlafen konnte. Die Melodien liefen so lange rund in seinem Kopf, bis der
Alkohol endlich wirkte.
Er lieà den Rest seines Studiums sausen, vergaà die Prüfung, lebte
auf einem anderen Planeten, las englische Bücher, hörte traditionelle keltische
Musik, so viel er auftreiben konnte, und war zum Songschreiber geworden. In
seinem Kopf erklang ausschlieÃlich Erins Stimme, wenn er schrieb, nur für sie
waren diese Lieder gedacht.
Er wusste damals nicht, dass er verliebt war, hielt dieses
schöpferische Fieber für eine künstlerische Erweckung, ein überraschendes
Durchbrechen von Talent, das er nicht bei sich vermutet hatte â das war es
auch, aber der Grund war Erin. Die Frau. Nicht nur ihre Stimme und ihre
Bühnenpräsenz, ihre offensichtliche Eignung zum Star, es lag auch an ihrem
Wesen und Aussehen, seine Träume rankten sich nicht nur um eine künstlerische
Symbiose, die Vorstellung, irgendwann in einem Saal seine eigenen Songs aus
ihrem Mund zu hören, mit ihr zusammen, oder besser: durch sie hindurch ein
Publikum zu faszinieren, vielleicht irgendwann das Radio anzuschalten und ihr
und sich zu lauschen â er träumte auch von ihrer Stimme, die nur für sein Ohr
bestimmte Sätze flüsterte, von ihrem Körper, der sich schlafend an seinen
schmiegen oder im Mondlicht ekstatisch auf ihm tanzen würde. Aber diese Bilder
lieà er tief unten, irgendwo im Keller seines Traumgebäudes vor sich hin
rascheln â im Erdgeschoss und in der Beletage ging es nur um die Kunst.
Dabei war sein Vorhaben hochromantisch. Er wollte Emmi um Erins
Adresse bitten, mit all den Songs in der Tasche zu ihr fahren, und sie würde
ihm dann um den Hals fallen, sobald sie deren Qualität erkannte.
Nachdem er einunddreiÃig Lieder geschrieben und zwanzig davon
weggeworfen hatte, war der Plan unterdessen ein anderer geworden: Er konnte ihr
doch die Songs über einen Musikverlag anbieten, nur ihr, und wenn sie einen
nähme und vielleicht aufnehmen durfte und wenn dieser Song dann auch noch
erfolgreich wäre, dann wollte sich Michael ihr als dessen Komponist offenbaren.
Dann würde sie ihm, dem sie ihren Erfolg verdankte, erst recht um den Hals
fallen.
Dass ihm ein so heimlichtuerischer Plan ganz vernünftig erschien,
war kein Wunder. Seit er wusste, dass er die Gedanken anderer Leute lesen
konnte,
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