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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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scheinbar höflich abwimmelten, war er so entmutigt, dass er
sich schon den Packen Lieder in den nächsten Papierkorb werfen sah, aber er
zwang sich nachzudenken. Er musste einen anderen Weg finden.
    Dublin war damals noch ein düsterer Ort. Außer in Teilen der
O’Connell Street und der Gegend um das Trinity College hatten die Häuser
heruntergekommene oder schon verfallende Fassaden, die täglichen Nachrichten
von Blutbädern aus dem Norden, der allgegenwärtige Alkoholismus und die
wirtschaftliche Lage breiteten eine Art unsichtbaren Smog aus, der alles zu
verdunkeln schien. Nur in der Capel Street, der Merrion Row und ihrer
Fortsetzung der Baggot Street erklang Musik an jeder Ecke, aus den Türen drang
Gerede, Gelächter und Gesang, mal natürlich auch Keifen und Gebrüll, aber hier
war Leben. Und eine erstaunliche Koexistenz von Rock und Punk und Jazz und traditioneller
Musik, die Michael nicht für möglich gehalten hatte.
    Zu Hause in Deutschland war das alles getrennt. Ein Punk würde
keinem Jazztrompeter zuhören, geschweige denn applaudieren, ein Bluesrocker
käme nie auf den Gedanken, einen Folkclub zu betreten, und dort würde man drei
Kreuze machen beim Anblick eines elektrisch verstärkten Instruments. Hier war
das alles beweglich und floss ineinander. Hier waren Inspiration und eine allgegenwärtige
Liebe zu Poesie und Musik, die in manchen Nächten das Schäbige und Marode
dieser Stadt wenn nicht gerade aufhob, so doch veredelte. Hier mochten die
Häuser verzweifelt oder gar verloren aussehen, die Musik war voller Wärme,
Kraft und Euphorie. Und sie gehörte allen. Der Oma, dem Enkel, der Politesse
und dem Busfahrer.
    In der Baggot Street war Michael auf das Schild einer Anwaltskanzlei
aufmerksam geworden. Drei Namen, Crawley, Simmons und Benson, und eine Harfe
waren darauf eingraviert. Die Harfe hatte seinen Blick gefangen. Er klingelte
und saß gleich darauf vor einem jungen Mann, der sich als Ian Benson vorstellte
und Michaels Vorhaben zumindest ohne Grinsen oder Augenbrauengymnastik bis zum
Ende anhörte.
    Und dann sah er sich die Noten an.
    Er pfiff leise die Melodie und klopfte mit dem Zeigefinger den Takt
auf die Kante seines Schreibtischs. Dann legte er das Blatt auf den Stapel
zurück und sah Michael an.
    Â»Wieso glauben Sie, dass die Songs nicht an diese junge Frau
verschwendet sind?«, fragte er in feinem, irisch gefärbtem Englisch ohne
Herablassung und ohne die Arme vor der Brust zu verschränken. »Wer sagt Ihnen,
dass die jemals eine Platte aufnehmen wird?«
    Â»Wenn Sie sie hören könnten, würden Sie das nicht mehr fragen«,
antwortete Michael.
    Â»Und wo könnte ich sie hören?«
    Â»Das weiß ich leider nicht. Ich habe nur ihre Adresse und will
nicht, dass sie mich sieht.«
    Â»Ist das eine Liebesgeschichte?«
    Â»Vielleicht.«
    Mit dieser kryptischen Antwort gab sich Benson erstaunlicherweise
zufrieden. Er lehnte sich zurück und dachte nach.
    Â»Und mein Honorar?«
    Â»Ich zahle, was Sie fordern, wenn ich es mir leisten kann. Oder ich
beteilige Sie an den Einnahmen.«
    So viel Selbstsicherheit wirkte wohl entwaffnend. Ian Benson lachte,
aber er lachte nicht abfällig oder gar sarkastisch, er lachte überrascht und
schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
    Â»Wenn Sie mir eine Telefonnummer geben, unter der ich Sie erreichen
kann, dann melde ich mich, sobald ich die Dame gehört habe. Dann weiß ich auch,
ob ich eine Rechnung stellen will oder die Beteiligung, okay?«
    Â»Okay«, sagte Michael.
    Â»Und jetzt gehen Sie zur Post, schicken diese Songs per Einschreiben
an sich selbst, lassen den Umschlag zu Hause ungeöffnet und haben so Ihre
Urheberschaft datiert und dokumentiert.«
    Â»Wieso das denn?«
    Â»Weil ich sonst behaupten könnte, ich hätte die Songs geschrieben.
Wir könnten auch zu einem Notar gehen und dieses Dokument einschließlich meiner
Kopien davon beglaubigen lassen, aber das kostet Geld. Sehr viel mehr als die
Post.«
    Noch in der Kanzlei packte Michael den Stapel in einen Umschlag,
nachdem Benson sich Kopien gemacht hatte. Er adressierte und verschloss das
Ganze, und Benson drückte ihm ein altmodisches Siegel aus rotem Lack (mit der
Harfe als Emblem) auf die Grenze zwischen Klebefalz und Couvert.
    Â»Das Notariat der Armen«, sagte Benson.
    Â»Viel Glück«, sagte Michael.
    Â»Das wünsche ich Ihnen

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