Vier Arten, die Liebe zu vergessen
lassen. Es dauerte eine Stunde, dann hatte
Michael zwei Verse, die ihm gefielen, und er ging nach oben, um das ganze
provisorisch in den Computer einzusingen. Es klang gut. Er hörte nicht seine
eigene, sondern, wie immer, Erins klare, weiche, feste und auf so subtile Weise
ausdrucksvolle Stimme.
Der Song war gut. Michael würde noch ein paar Tage warten,
vielleicht noch daran schleifen, und ihn dann an Ian schicken. Heute ging das
per E-Mail, früher hatte er die Noten gefaxt oder mit der Post geschickt.
~
Das erste Mal, dass er ein eigenes Stück in der Ãffentlichkeit
hörte, war in Galway gewesen. Er hatte damals eine Freundin, Roisin, eine
katholische Exilantin aus Belfast, die nie wieder dorthin zurückwollte, aber
fürchterliches Heimweh hatte und deshalb immer wieder in schwermütige, düstere
Versunkenheit abdriftete, aus der Michael sie nur mit Geduld, Humor und kleinen
Geschenken wieder befreien konnte.
Sie waren schwimmen gewesen und saÃen jetzt mit nassen Haaren und
müden Gliedern (Roisin schwamm wie ein Fisch, und Michael hatte versucht
mitzuhalten) an einer StraÃenkreuzung auf dem Sims eines Souterrainfensters und
hielten jeder ein Eis in der Hand. Ein offener Bentley fuhr vorbei, und aus
dessen Autoradio erklang laut und elektrisierend Blame it on
the summer , das erste Stück von Fairy Os seit vier Tagen erhältlichem
Album.
Den Bentley steuerte eine Frau mit Sonnenbrille und weiÃer
Baseballmütze, unter der ihre strohblonden Kringellocken hervorquollen. Die
Frau trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Rhythmus und war offenbar
einverstanden mit der Musik. Michael war es ebenfalls. Das Arrangement gefiel
ihm â aus seiner eher an Bill Haley angelehnten Rockabilly-Version war ein schwungvoller
Reel geworden, nur leicht verfremdet durch eine dezent durchgehende Synthesizersequenz,
die sich erfrischend ins traditionelle Instrumentarium aus Bandoneon, Bodhrán,
Geigen und einer Tinwhistle mischte. Michael wusste nicht, wohin mit seinem
Glück.
Er sah der Frau und lauschte dem Lied hinterher und atmete flach vor
lauter Euphorie, bis ihm das in seiner Hand vergessene Eis auf die Hose
tropfte.
»Was hast du?«, fragte Roisin.
»Ein überwältigendes Bedürfnis danach, dich zu lieben«, sagte er.
»Also los. Worauf warten wir.« Sie lachte, zog ihn hoch, und sie
gingen Hand in Hand zu seinem Apartment im Wohnheim, wo es ihnen gelang, sich
ungesehen hineinzuschleichen, denn Besuch vom anderen Geschlecht war
selbstverständlich verboten.
Aber er hatte gelogen und war nicht bei der Sache. Irgendwo musste
sein Glück zwar hin, warum nicht in die Liebe mit Roisin, doch er merkte, dass
er sich verstellte, um ihr nicht das Gefühl zu geben, er langweile sich mit
ihr. Das gelang ihm zum Glück, beschämte ihn aber womöglich noch mehr, denn zum
Heucheln von Leidenschaft kam jetzt auch noch die Vorstellung von Erin, die er
mit geschlossenen Augen heraufbeschwor und an Roisins Stelle projizierte â das
ermöglichte ihm immerhin irgendwann zu kommen â, danach hatte er aber das
dringende Bedürfnis, Roisin etwas Kostbareres als nur einen Kuli oder ein
schönes Notizbuch zu schenken.
Die Sache hielt nicht lange. Michaels innere Distanz, seine zwar
freundliche, aber auch rigorose Unnahbarkeit lieÃen das Liebesverhältnis
schnell erlahmen und auch für Roisin zu dem werden, was es für Michael von
Anfang an gewesen war: eine Bettgeschichte. Mehr nicht.
Sie trennten sich ein paar Wochen später, und Michael merkte kaum
etwas davon. Er lebte so sehr in seinem Kopf, in seinen Phantasien von Erins
Leben und seiner Anwesenheit darin â was sein Körper in der Zwischenzeit
brauchte, wollte und sich nahm, geschah quasi autonom.
Das wurde Michaels Muster. Er lieà sich nie tiefer ein auf die
Frauen, mit denen er zusammen war, in seinem Inneren waren sie immer nur
Stellvertreterinnen für die Eine, Einzige, Unerreichbare, der er sich wie ein
Minnesänger verschrieben hatte. Die Frauen kamen und gingen, sie trennten sich
von ihm und scharten sich um ihn, es war so, wie es war, und Michael musste nur
selten die berechtigte Wut einer enttäuschten Geliebten ertragen. Und nie fiel
es ihm schwer, sie gehen zu lassen.
~
Lucs autistisches Geknalle mit dem Ball hörte nicht mehr
auf. Das würde bis zum Abendessen so weitergehen. Michael nahm Handtuch,
Bademantel, Schlappen und Badehose aus dem
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