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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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vorgeschlagen hatte.
    Er wusste, dass er mit dieser Einschätzung nicht kokett war – in den
letzten Jahren hatten oft auch andere Interpreten Stücke von ihm
herausgebracht, und keines davon war ihm je so ans Herz gegangen wie die meisten
von Erin und ihrer Band aufgenommenen. Natürlich gelang es ihm nicht immer,
sich von den eigenen Vorstellungen zu verabschieden, und er war enttäuscht,
wenn er eine neue Aufnahme beim ersten Hören kaum wiedererkannte, aber entweder
gewöhnte er sich daran und bekam Zugang zu Erins Interpretation, oder er
verkraftete diese Ausnahmen, weil sie eben nur Ausnahmen waren. In den meisten
Fällen ergab er sich der Musik, mal mit Stolz, mal mit Staunen, fast immer
jedoch in der Seele berührt.
    Er hatte vergessen, dass die Fenster offen waren, deshalb stand er
auf, um sie zu schließen, denn er wollte seinen Nachbarn diese Lautstärke nicht
zumuten, sich selbst aber nicht mit leiserem Gesäusel unterernähren. Jenseits
des Kanals, auf der Fondamenta Rossa, stand ein Mann in einem ungebügelt
aussehenden blauen Anzug und schien das Haus mit seinem iPhone zu
fotografieren. Er hielt es senkrecht vor sich und schaute aufs Display.
Vielleicht nahm er auch die Musik auf, denn jetzt sah er Michael am Fenster
stehen, lächelte, senkte das Handy, als sei er verlegen, weil er beim
Spionieren erwischt worden war, und machte eine kleine Verbeugung. Dieselbe
winzige Andeutung, die Michael damals in Dingle gemacht und deren Echo er
später bei Megan gesehen hatte.
    Der Mann ging weiter, aber so langsam, wie man an einem
Straßenmusiker vorbeigeht, dessen Musik einem gefällt: Er wollte noch dem
Leiserwerden und schließlich Verklingen der Musik lauschen. Michael ließ das
Fenster offen und ging zurück in den Raum.
    Er hörte das Album durch bis zum letzten Lied, Goodbye
and good luck . Dann hörte er wieder das Patsch, Patsch, Patsch, Bumm,
das der unerträgliche Luc noch immer 
nebenan veranstaltete.
    Michael wusste, die nächsten Stunden würden nicht vergehen. Jetzt
wäre es gut gewesen, irgendetwas tun zu müssen, und wenn es Buchhaltung, Putzen
oder Einkaufen wäre, irgendetwas tun zu wollen, aber er wollte nichts, oder
einfach das Nichtstun zu beherrschen, so wie Minus, die eben schlief, bis es
was zu essen, zu zerkratzen oder zu jagen gab. Dasitzen und die Bälle von Luc
zu zählen kam jedenfalls nicht infrage, also ging er raus zum Campo San Polo,
wo er sich eine Zeitung kaufte und Cappuccino trank, bis die Glocken von
Rettoriale di San Polo läuteten und die Kirchgänger auf den Platz strömten. Die
Kinder mit ihren Skateboards störten ihn nicht, die Zigeunerband mit ihren
immer gleichen Stücken auch nicht, er bezahlte seinen Obulus beim Geiger, als
der mit dem Hut herumging, und studierte weiter die schon veralteten
Neuigkeiten aus Deutschland. Irgendwann war tatsächlich so viel Zeit vergangen,
dass er sich langsam auf den Weg zum Flughafen machen konnte.
    Auf dem Rückweg würden sie die Alilaguna nehmen oder ein Taxi, das
wollte er Bernd und Thomas entscheiden lassen, aber den Hinweg machte Michael
auf die klassisch venezianisch einwohnerische Art mit dem Bus von Piazzale
Roma. So vergingen noch einmal vierzig Minuten, und er musste am Flughafen
nicht mehr allzu lange warten.
    ~
    So wie die letzten Stunden verstrichen waren, hatten sich
auch die Jahre in Berlin ineinandergeschoben und verflüchtigt, eines dem
anderen ähnlich ohne große Katastrophen oder Höhepunkte, die das stetige Verfließen
der Zeit für Michael unterbrochen hätten. Er ließ sich treiben durch die neu
entstehenden Szeneviertel, Clubs und Cafés, Kleinkunstbühnen und Ausstellungsräume,
flanierte durch die Steinwüsten des ehemaligen Ostens und die schäbiger
werdenden Wohlstandsviertel des ehemaligen Westens, schloss keine
Freundschaften, ging flüchtige Beziehungen zu Frauen ein, die sich ebenso wenig
binden wollten wie er – es war leicht in Berlin, anonym oder zumindest fremd zu
bleiben, alle waren fremd und auf der Suche und wollten nicht ankommen, sondern
immer wieder aufbrechen.
    Wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde, behauptete er,
Schriftsteller zu sein, und wurde sofort in Ruhe gelassen. Niemand fragt einen
Schriftsteller nach seiner Arbeit. Zum einen will man ihn nicht kränken, indem
man eventuell seinen Namen nicht kennt, zum anderen hält man ihn von vornherein
für arrogant

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