Vier Arten, die Liebe zu vergessen
und kommt deshalb auf keine Frage, mit der man sich nicht
blamieren würde. Er hatte anfangs mit anderen Berufen experimentiert, sich mal
als Lobbyist ausgegeben und mal als Dozent im Sabbatjahr, als wissenschaftlichen
Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten und als Journalist, aber keiner dieser
Berufe war ähnlich perfekt als Fragenbremse gewesen wie der des Schriftstellers.
Nannte er den, wurde das Thema gewechselt, und Michaels Gegenüber begann, von
sich selbst zu reden.
Die meisten Menschen reden am liebsten über sich selbst und brauchen
nur ein Ohr, das ihnen zuhört, und die meisten Menschen merken nicht, ob das
Zuhören nur vorgetäuscht wird, weil sie nicht auf Fragen warten, an deren
Qualität sie ermessen könnten, was das Gegenüber kapiert hat oder wissen will,
sie reden lieber weiter, weil es so schön ist, sich einzubilden, man stehe im
Mittelpunkt und sei ein interessanter Mensch.
In den ersten Jahren waren die eintreffenden Tantiemen für Michael
noch eine Art von Glücksschock, aber nach und nach wurde es normal, immer mehr
Geld auf dem Konto zu haben, nicht zu wissen, was damit geschehen sollte, und
einfach so weiterzuflanieren wie jemand, der nicht wirklich hierhergehört, nur
eine Weile herumspaziert, die Menschen belauscht, sich mit Plaudereien an der
Theke einer Bar oder in der Warteschlange vor einem Kino oder Konzert zufriedengibt
und weder Aufmerksamkeit noch Freundschaft oder gar Liebe sucht. Ein Fisch in
fremden Schwärmen. Glatt und beweglich und wieder weg, bevor Angel oder Netz in
seine Nähe kamen.
Eine hervorragende Stereoanlage leistete er sich, Bücher und CD s, Bilder von unbekannten Malern, von denen es ebenso
viele in Berlin zu geben schien wie unbekannte Schriftsteller, und sein Studio,
das Instrumentarium, mit dem er, mal fieberhaft und mal nur nebenbei,
komponierte, hielt er immer auf dem neuesten Stand. Dafür und für die Anzüge,
die er fast nur noch trug, gab er Geld aus, aber das fiel nicht ins Gewicht.
Die Summe auf dem Konto wurde immer gröÃer, und erst als er Steuern bezahlen
musste, gab es merkliche Einbrüche. Beim ersten Mal, als für zwei vergangene
und das laufende Jahr auf einmal abgebucht wurde, bekam er sogar richtig Angst,
in die Pleite zu rutschen. Ein Anruf bei Ian und ein Vorschuss aus Dublin
beruhigten ihn aber wieder, und es pendelte sich ein und wurde normal für ihn,
viel zu viel Geld zu besitzen, obwohl er viel zu viel an den Staat überwies.
Als eine Art Privatsteuer zur Beruhigung seines Gewissens zahlte er
monatlich an eine Organisation, die Kindern in der armen Welt Trinkwasser,
Essen, ein Dach über dem Kopf, Schulbildung und ärztliche Versorgung
verschaffte, und je normaler es für ihn wurde, dass sein Geld nicht mehr
abnahm, sondern sich stetig vermehrte, desto höher wurde die monatliche Summe.
Im Lauf der Zeit hatten sich die Bilder von Roisin und Megan immer
mehr gemischt mit Michaels Vorstellung von Erin. Sie waren so etwas wie die
reale Erinnerung an eine fiktive Verbindung geworden. Dass er sich mit Erin
verbunden fühlte, sich bewusst war, mit ihr etwas eigentlich Intimes zu teilen,
den zerbrechlichen Gleichklang, der sie in die Lage versetzte, gemeinsam zu musizieren,
ohne einander je gesehen, gesprochen oder berührt zu haben, diese Gewissheit
beschützte ihn seltsamerweise vor den Schmerzen, die die Einsamkeit erzeugt. Er
war nicht einsam. Zumindest nicht immer. In seinem Studio, am Computer, vor den
Tasten, mit denen er inzwischen bis auf wenige Gitarren- oder Mandolinenparts
alles einspielte, war er eins mit Erin, die sich beim Singen dieser Lieder, wenigstens
manchmal, ebenso eins mit ihm fühlen musste.
Bei seinen seltenen Besuchen in Dublin oder Ians häufigeren in
Berlin versuchte Michael anfangs, hin und wieder etwas über Erin zu erfahren.
Aber Ian blieb stumm. Er hatte ihr dasselbe Versprechen (oder zumindest ein
ähnliches) wie Michael geben müssen, nämlich nichts über ihr Leben zu verraten.
Das war Erins Art, auf Michaels schrullige Anonymität zu antworten â durfte sie
nicht wissen, wer er war, dann sollte er ebenso wenig erfahren, wer sie
(zumindest jenseits der veröffentlichten Figur) war.
So viel aber erzählte Ian irgendwann: Erin hatte ihn ausgefragt,
hatte wissen wollen, wer diese Songs für sie schrieb, aber dann hatte sie
aufgegeben und sich daran gewöhnt, ein Gespenst als Komponisten zu haben.
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